Der Atomreaktor am Stadtrand
Baukörper in Berlin-Wannsee ist unzureichend gesichert
Wer weiß den schon, dass am Stadtrand von Potsdam ein Atomreaktor steht und ein zweiter in den nächsten Monaten in Betrieb genommen werden soll! Es handelt sich um einen Forschungsreaktor des Hahn-Meitner-Instituts (HMI) in Berlin-Wannsee, unweit von Kleinglienicke und Babelsberg.
Mit dem Reaktor werden Materialstudien betrieben, deren Ergebnisse bzw. Produkte z.T. militärisch genutzt werden. Der Baukörper ist nur unzureichend gegen äußere Gefahren gesichert, und durch die kalte Neutronenquelle ist ein weiterer Risikofaktor vorhanden. Gegen den Reaktor spricht, dass die Forschungsergebnisse auch mit Teilchenbeschleuniger oder Computer erhalten werden können, dass weder ein Entsorgungsprogramm für den radiaktiven Abfall vorhanden ist und es keine Katastrophenschutzplanung gibt.
Wir wehren uns gegen die Verharmlosung der davon ausgehenden Gefahren und fordern, dass auch Potsdam und deren Bevölkerung in die Katastrophenschutzplanung einbezogen wird.
Gruppe ARGUS-ENERGIE
C. Linke
aus: Brandenburgische Neuste Nachrichten, Nr. 1, 02.01.1990, 40. Jahrgang, National-Demokratische Tageszeitung, Herausgeber: Präsidium des Hauptvorstandes der NDPD
Kein Konzept für Havarien
Radtour über die Glienicker Brücke / ARGUS in Aktion
Im Dezember trafen sich rund 20 Mitglieder und Freunde der neu ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe Stadtverkehr von ARGUS zur gemeinsamen Radtour. Die Interessengemeinschaft Stadtverkehr mit ihren Untergruppen Radverkehr, Verkehrsökologie, Öffentlicher Personennahverkehr, Motorbootverkehr; Grenzverkehr und Öffentlichkeit trat damit erstmals in Erscheinung.
Die in die Pedale tretenden Freunde verbanden mit dieser Aktion Nützliches und Schönes miteinander. Vorbei an der auch an diesem Tag wieder zweispurigen Autoschlange am Grenzübergang Glienicker Brücke - ARGUS hätte nicht tauschen mögen mit den Insassen der Pkw, die im zähflüssigen stop-and-go-Verkehr viertelstundenweise ihre Zeit "verschenkten" - ging es über den Böttcherberg zum Griebnitzsee. Babelsberg vom anderen Ufer aus zu betrachten, kann als Ausflugstip nur wärmstens empfohlen werden. In Kohlhasenbrück konnte man sich von den noch vorhandenen Schwierigkeiten technischer Art für die Wiederaufnahme des elektrischen S-Bahn-Verkehrs Potsdam-Berlin überzeugen. Der große Aufwand für den Neuaufbau der Bahnanlagen und Brücken dämpfte allzu optimistische Erwartungen.
Der Abschluss der Radtour war am Hahn-Meitner-Institut vis-à-vis des Schäferberges in Wannsee. Dort erwarteten uns die Freunde verschiedener Umweltschutzgruppen aus Berlin (W) zum "Sonntagsspaziergang" (Beginn dieser Demo jeden Sonntag 15 Uhr; Haltestelle Busline 18, Glienicker Straße). Das klingt harmlos, hat aber einen brisanten Hintergrund: 6 km vom Zentrum Potsdams entfernt ist ein Atomreaktor in Betrieb, dessen Leistung in allernächster Zukunft wesentlich erweitert werden soll (wir berichteten bereits): Offiziell wird von den Betreibern die Notwendigkeit dieser Anlage zur Grundlagenforschung (für die es aber jetzt schon Alternativen gibt!) erklärt.
Weiterhin sei das System sicherheitstechnisch perfekt (Tschernobyl galt auch als sicher, und Flugzeugabstürze, für die es keinen Schutz gibt, sind ja so unwahrscheinlich!). In Potsdam ist die Öffentlichkeit bisher völlig uninformiert, es gibt keinerlei Konzept für den Havariefall!
ARGUS wird weiterhin mit allen verfügbaren Möglichkeiten in gemeinsamen Ost-West-Aktionen gegen diese Bedrohung unseres Lebens aktiv bleiben! Jeder aufgeschlossene aktive Bürger, der wie ARGUS angesichts der Gefahren für unsere Umwelt nicht den Kopf in den Sand stecken will, der sich übet Sach- und Fachthemen informieren oder sich engagiert betätigen will, kann sich an folgende Adresse wenden: (...)
ARGUS
IG Stadtverkehr
aus: Brandenburgische Neuste Nachrichten, Nr. 3, 04.01.1990, 40. Jahrgang, National-Demokratische Tageszeitung, Herausgeber: Präsidium des Hauptvorstandes der NDPD
Reaktor am Stadtrand
Hahn-Meitner-Institut zu Vorwürfen der Gruppe ARGUS
Zu den von der Gruppe ARGUS veröffentlichten Beiträgen "Der Atomrealtor am Stadtrand" ("BNN" vom 2.1.1990) und "Kein Konzept für Havarien" ("BNN" vom 4.1.1990) erhielten wir vom Hahn-Meitner-Institut in Berlin-Wannsee folgende Stellungnahme.
Ganz entschieden weisen wir vor allem die Unterstellung von ARGUS zurück, dass "Ergebnisse bzw. Produkte von Materialstudien am Forschungsreaktor zum Teil militärisch genutzt werden". Jegliche Arbeit für militärische Zwecke ist uns einerseits durch den Gesellschaftsvertrag unseres Forschungsinstituts und den Berlin-Status untersagt und wäre andererseits auch von keinem Wissenschaftler beabsichtigt sowie technisch wohl kaum möglich.
Es gibt im Hahn-Meitner-Institut im Gegensatz zur Behauptung von ARGUS nur einen Forschungsreaktor. Die wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten wurden in den letzten Jahren in einem Umbau ganz erheblich verbessert, verbunden mit einer Leistungserhöhung von fünf auf zehn Megawatt-thermisch (übliche Kernkraftwerke haben eine Leistung von 4 000 Megawatt-thermisch). Trotz erheblich niedriger Leistung und wesentlich einfacherer Konstruktion (kein Hochdruck-Kühlsystem) sind die Sicherheitsanforderungen an den Forschungsreaktor die gleich hohen wie bei bundesdeutschen Kernkraftwerken.
Der Forschungsreaktor erzeugt Neutronenstrahlung. Diese Strahlung wird von Physikern, Chemikern und Biologen als Mittel zur thermischen Analyse und vor allem zum Studium des Aufbaus von Materie aus Atomen und Molekülen verwendet. Eine Alternative zur Grundlagenforschung mit Neutronenstrahlung gibt es entgegen der Darstellung von ARGUS nicht.
Die Entsorgung der Brennelemente wird entweder in den USA oder Großbritannien erfolgen. Eine Katastrophenschutzplanung gab es schon für den früheren Fünf-Megawatt-Betrieb, und es wurde, soweit dies die Berliner Senatsverwaltung vereinbaren konnte, auch die DDR einbezogen.
Gelder für die Solarforschung wurden nicht vom HMI blockiert, sondern dringend erwartet. Bonn [gemeint ist die damalige Bundesregierung mit Sitz in Bonn] hatte die Gelder wegen Unklarheiten über die West-Berliner Forschungspolitik zurückgehalten, hat diese mittlerweile aber freigegeben.
Es lag an der fehlenden Offenheit der Grenzen, wenn den Bürgern der DDR bisher viele Informationen vorenthalten blieben. Wir sind gerne bereit, uns einem Informationsbedürfnis der DDR-Bevölkerung zu stellen. Das Hahn-Meitner-Institut bietet seit jeher Einzelpersonen und Gruppen die Möglichkeit zur Besichtigungen der Forschungsanlage und damit verbunden die Gelegenheit zu Gesprächen. Außerdem versenden wir auf Anfrage Informationsmaterial und geben gewünschte Auskünfte. Da auch alle unsere Forschungsergebnisse veröffentlicht werden und jeden frei zugänglich sind, gibt es eigentlich keinen Grund für falsche Vermutungen.
Thomas Robertson
Abt. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
aus: Brandenburgische Neuste Nachrichten, Nr. 26, 31.01.1990, 40. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport