Offener Brief der Bürgerinitiative Kommunalwahl '89 Leipzig-Mitte

Unsere Bürgerinitiative hat zur Kommunalwahl '89 im Leipziger Stadtbezirk Mitte in 82 von 84 Wahllokalen 2 150 Stimmen gegen den Wahlvorschlag mehr ermittelt als offiziell angegeben wurden. Die Hälfte aller Nein-Stimmen ist verschwunden, und bis heute ist diese Differenz trotz aller unserer Bemühungen nicht aufgeklärt.

Entscheidende Wahlunterlagen sind auf Anordnung der zentralen Wahlkommission hin bereits im Juni vernichtet worden. Egon Krenz zieht daraus die Schlussfolgerung, dass - da nunmehr Aussage gegen Aussage stehe - wir das fruchtlose Herumstochern in der Vergangenheit unterlassen und statt dessen voller Elan in die Zukunft blicken sollten.

Wir sind der Ansicht, dass dieser Pragmatismus kurzsichtig ist und - wie dies immer bei unbewältigter Vergangenheit der Fall ist - einer Tiefgründigkeit der anstehenden radikalen Gesellschaftsveränderung entgegensteht. Eine rückhaltlose Aufklärung der diesjährigen Kommunalwahlen als ein Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist u.E. notwendig, weil die Antworten auf folgende Fragen entscheidend dafür sind, dass begangene Fehler nicht wiederholt werden:

1) Welche Mechanismen und gesellschaftliche Strukturen haben in der DDR Wahlbetrug ermöglicht und, bislang nicht ahnden lassen?

2) Wer waren diejenigen, die den Wahlbetrug initiiert oder wissentlich mitgetragen haben? Sie dürfen bei der nächsten Wahl auf keiner Kandidatenliste wieder erscheinen!

3) Wer konnte, mit welchem Recht Anordnungen erlassen, die die Vernichtung der Wahlunterlagen bereits kurzzeitig nach der Wahl vorschrieben?

Ein Staat kann erst dann von sich behaupten, ein Rechtsstaat zu sein, wenn er übereins unabhängige, unparteiische Rechtsprechung verfügt und für seine Bürger die proklamierte Rechtssicherheit tatsächlich erfahrbar wird. Solange nach wie vor Angestellte in Staatsapparat und Justiz sitzen, die die Wahlfälscher decken und die generell kein Interesse an der Aufdeckung strafbarer politischer Handlungen von Funktionären haben, werden die Bürger kein Vertrauen zur Rechtsstaatlichkeit der DDR fassen. Als kleines Beispiel für die nach wie vor rechtsunsichere Lage diene hier nur der Umstand, dass der Staatsanwalt der Stadt Leipzig, Dr. F(...), es noch am 26.10.89 nach Prüfung der noch vorhandenen Wahlunterlagen nicht für nötig erachtete, im Zuge eines Anzeigenprüfungsverfahrens auch uns als Zeuge anzuhören, wie es die Strafprozessordnung vorsieht.

Der Umgang mit der Kommunalwahl bleibt für uns ein Barometer dafür, wie ernst man es seitens des Staates und seiner Institutionen mit Neubeginn und Demokratisierung meint.

Im Namen der Bürgerinitiative
Beate G(...)
Sektion ML der KMU

Leipzig, 27. 11. 89

aus: Leipziger Volkszeitung, Nr. 282, 30.11.1989, 45.(96.) Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Leipzig der SED