Berlin. ADN Über die Ergebnisse der Landesdelegiertenkonferenz übermittelte das Neue Forum dem ADN gestern folgende Information:
Am 6. und 7.1.1990 fand in Leipzig die dritte Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forum statt. Das Neue Forum gründete sich mit großer Mehrheit als politische Vereinigung. Damit bleibt der Charakter einer Bürgerbewegung bewahrt.
Für den Fall, dass das Neue Forum trotz Ausschöpfung aller politischen Mittel durch das Wahlgesetz an der Wahlbeteiligung als politische Vereinigung gehindert wird, wird ein außerordentliches Republikforum über eine Parteigründung entscheiden.
Die Delegiertenkonferenz sprach sich gegen die Weiterarbeit der Staatssicherheit in Form eines Verfassungsschutzes aus. Es wurde eine landesweite Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit der gegenwärtigen Arbeit der Staatssicherheit befasst. Sie hat ihre Arbeit bereits aufgenommen.
Die Konferenz beschloss, für den 15.1.1990 landesweit zu einer Demonstration gegen das Fortbestehen der Staatssicherheit aufzurufen.
Das Statut des Neuen Forum wurde beraten und in erster Lesung verabschiedet. Den Vertretern des Neuen Forum am Runden Tisch wurde mit großer Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen. Es wurde beschlossen, den Runden Tisch zu verlassen, wenn vor dem 6. Mai ein Verfassungsschutz gebildet werden sollte.
Die Versammlung sprach sich für ein Wahlbündnis mit allen demokratischen oppositionellen Kräften aus. Die Verhandlungen über ein gemeinsames Wahlprogramm sollen sofort aufgenommen werden.
(Berliner Zeitung, Di. 09.01.1990)
Dass basisdemokratische Arbeit auch effektiv sein kann, bewies das NEUE FORUM am zweiten Tag seines Leipziger Treffens. Die Zeit war knapp geworden an diesem 7. Januar, die Tagesordnung fast noch so lang wie am Vortag, da kam der Vorschlag, Arbeitsgruppen zu bilden. Die Kompromisslösung der Statutengruppe, herausgefiltert aus einer Unmenge von Änderungsanträgen, fand nach kurzer Diskussion Zustimmung.
Genauso praktikabel war die Arbeit eines Teams, das sich am Vorabend zusammengefunden hatte, um Erfahrungen mit dem neuen - alten Amt für Verfassungsschutz auszutauschen. Als Ergebnis seines mitternächtlichen Treffens legte es ebenfalls ein Papier vor, das nach Diskussion und Überarbeitung die nötige Mehrheit fand. Wie verantwortungsbewusst das Thema behandelt wurde, zeigte die Abstimmung über einen Warnstreik aus gleichem Anlass - er wurde mehrheitlich abgelehnt.
Einig waren sich alle über die Problematik des Runden Tisches. Die dorthin entsandten Vertreter bekamen das Vertrauen der Delegierten, die Mitarbeit aufzukündigen, sobald sie nicht mehr zu vertreten sei. Diese konsequente Entscheidung des Auditoriums kam in einem erfrischenden Klima politischer Diskussion zustande und zeigte ihre Wirkung bereits am 15. 1. bei den Entscheidungen der Regierung Modrow.
Schade, dass die Arbeit der Konferenz am ersten Tag viel weniger produktiv und zügig vonstatten ging, so dass am Ende der Tagung wichtige Themen nicht behandelt waren: Wie unterscheidet sich das NEUE FORUM von den anderen oppositionellen Gruppen, mit welchem Programm und welcher Strategie tritt es zur Wahl an, welchen Konsens gibt es bei den Mitgliedern zu Reizthemen wie deutsche Frage usw. All das zu klären, bleibt der Gründungskonferenz vorbehalten.
Der erste Tag des Treffens brachte eine Entscheidung: Das NEUE FORUM bleibt eine basisdemokratische Bürgerbewegung, die sich mit parteilosen Kandidaten zur Volkskammerwahl stellt. Sicher ist dieser Beschluss seine 7 Stunden wert. Aber tatsächlich wurde ganze 27 Minuten über den Inhalt der Frage Partei oder Vereinigung diskutiert. Geduldig und diszipliniert wurde Antrag auf Antrag abgestimmt - zu Verfahrensfragen und oft nebensächlichen Details. Jeder Delegierte wusste sich von mehreren hundert Mitgliedern beauftragt, seine Meinung vorzubringen und durchzusetzen. Was viele Jahre nur einen Makel in der Kaderakte, bestenfalls eine dankbare Zuhörerschaft bewirkte, sollte jetzt Entscheidungen auslösen. Ein unbekanntes Gefühl von Freiheit. Und die Versuchung, über der Entdeckung der eigenen Stimme das Ziel der Konferenz aus dem Auge zu verlieren. Selbstbefreiung als Bremse für politisches Handeln. Zum Beispiel entzog die Versammlung per Abstimmung dem nicht delegierten Arbeitsausschuss des Landessprecherrates das Stimmrecht. Die Delegierten zeigten sich ob dieses Funktionierens von Basisdemokratie hoch zufrieden. Niemand fragte nach dem Nutzen dieses formalen Votums, das einige der besten Köpfe des NEUEN FORUMs (z. B. Mehrere seiner Gründer) von der Mitsprache ausschloss. Dabei waren sich die Teilnehmer der Tragweite des Treffens durchaus bewusst. Das zeigte der anhaftende Beifall, nachdem der Kompromiss beschlossen war, eine Partei nur zu bilden, wenn das neue Wahlgesetz dazu zwinge.
Alles war erleichtert, dass endlich die nötige 2/3-Mehrheit zustande gekommen war. Für Sekunden herrschte eine glückliche Übereinstimmung im Saal. Das steckte an. Erst später kam mir Zweifel. Laufen wir nicht vor einem Gespenst davon, das da Spaltung heißt? Ein gut Teil Schwierigkeit auf diesem Treffen übereinzukommen, lag nach meiner Beobachtung in einem auseinanderstrebenden Politikverständnis. Wie ein Berliner Delegierter als Vertreter der Mehrheit formulierte, gilt es, aus der Parteienmüdigkeit Westeuropas zu lernen. Alle modernen Naturwissenschaftler plädieren für sich selbst organisierende Systeme, die allein Erstarrung verhindern können. Die basisdemokratische Bewegung des NEUEN FORUMS ist die Chance eines solchen Systems in der Gesellschaft. Dem hielt ein Schweriner entgegen, dass Begriffe wie Parteienmüdigkeit für uns nicht zuträfen; bei uns gäbe es keine Parteien, sondern nur Mafia. D. h., das NEUE FORUM muss zwei auseinanderdriftende Strömungen zusammenhalten: Die einen wollen das z. Zt. gut funktionierende Alte - den bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus - endlich auch in der DDR machen. Die anderen wollen, im Bewusstsein, dass die sozialen und ökologischen Probleme der nächsten Jahrzehnte mit den bekannten politischen Strukturen nicht zu bewältigen sein werden, etwas Neues versuchen. Wie lange wird das noch durch qualvoll erarbeitete, zeitaufwendige Kompromisse miteinander zu vereinbaren sein?
Julia Michelis
(Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 1)
Auf der Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forum im Kulturhaus "Adolf Frank" in Leipzig, wird am zweiten Tag von Delegierten aus Dresden die Frage zur Einheit der beiden deutschen Staaten aufgeworfen. Es sollte die Möglichkeit eines Weges zur Einheit ausgelotet werden.
Die Entscheidung über eine "Frauenquote" wird auf den Gründungskongress vertagt.
Auf Antrag der Bürgerkomitees soll in allen Bezirken am Montag, den 15. Januar, Demonstrationen und Aktionen gegen die Pläne der Modrow-Regierung, die Stasi in einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst umzuwandeln stattfinden. Besonders im Blick die Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg.
Es gibt unterschiedliche Zählweisen. Ein erstes überregionales Koordinierungstreffen fand am 14.10.1989, ein zweites am 11.11.1989 statt. Ein Landesdelegiertentreffen am 09./10.12.1989 und am 06./07.01.1990.