Berlin. ADN/BZ Im Haus des Parteivorstandes der SED-PDS sind gestern [19.01.] radikale Forderungen zur Erneuerung der Partei erhoben worden.
Mitglieder der Berliner Basis dieser Partei kritisierten den schleppenden Fortgang des Wandels der Partei. Sie forderten die konsequente Umsetzung der Beschlüsse des außerordentlichen Parteitages von Mitte Dezember. Schluss mit dem alten Denken und den alten Strukturen in der Partei - so lautet der Tenor der Erklärung einer Initiativgruppe, die in den Parteivorstand eingeladen hatte. Sie konstatierte die innere Zerreißprobe, der die Partei ausgesetzt ist. Das Dilemma der Partei bestehe darin, den Beweis ihrer tatsächlichen Erneuerung noch schuldig zu bleiben und gleichzeitig eine politische Kraft zu sein, die dem Land wichtige politische Impulse geben könnte. Wenn die SED-PDS konsequente demokratische und sozialistische Kraft bei der Erneuerung des Landes sein will, dürfe sie ihr nicht weiter hinterherlaufen.
Die Diskussionsredner sprachen sich mehrheitlich für die Fortexistenz der Partei aus. Es wurden aber auch gegenteilige Standpunkte artikuliert. Einige konstatierten zunehmende Auflösungsprozesse innerhalb der Partei.
Nach Auffassung des Partei Vorsitzenden Gregor Gysi, der auf der Veranstaltung sprach, würden ohne die Existenz der SED-PDS Gefahren der Destabilisierung der demokratischen Bewegung in der DDR verstärkt.
Mitglieder mehrerer Plattformen der SED-PDS hatten am Donnerstag in einem Positionspapier die Auflösung der SED-PDS gefordert, weil es nicht gelungen sei, die Partei von Grund auf zu erneuern. Im Verlauf der Diskussion wurde deutlich, dass nicht alle Plattformen die Aufforderung nach Parteiauflösung mehrheitlich tragen.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Entscheidung über die Auflösung nur von der Parteibasis selbst getroffen werden kann - durch eine Urabstimmung oder die Einberufung eines erneuten Sonderparteitages.
Gysi wird mit dem Votum der Vertreter der Berliner Parteibasis für radikale Parteierneuerung in die heutige Vorstandstagung der SED-PDS gehen können.
Von Austrittsplänen seines Stellvertreters Berghofer wisse er nichts, sagte Gysi am selben Tag gegenüber DPA. Als Unsinn bezeichnete er Meldungen der "Bild- Zeitung", Berghofer habe dies dem Parteivorstand schon mitgeteilt. Noch vor zwei Tagen habe er einen Geburtstagsglückwunsch Berghofers erhalten, in dem dieser versicherte, "ich bleibe Dein Mitstreiter".
(Berliner Zeitung, Sa. 20.01.1990)
Berlin (ND). Zu einer spontan einberufenen Versammlung Hunderter Vertreter der Berliner Parteibasis kam es am Freitagabend im Haus der Partei. Diskutiert wurde die Frage: radikaler Bruch und Erneuerung der Partei oder Auflösung - wie sie am Vortag von Vertretern einiger Plattformen gefordert worden war. Dieses Land brauche weiter eine starke linke sozialistische Kraft, haben Vertreter der Initiativgruppe zur konsequenten Umsetzung der Beschlüsse des außerordentlichen Parteitages hervor. Es gehe nicht um Kapitulation, sondern um konsequente Umgestaltung zur Partei des Demokratischen Sozialismus.
Zahlreiche Diskussionsredner zeigten sich besorgt über die Situation in unserem Land und über die Lage in unserer Partei. Es gehe darum, an der Erneuerung der DDR mitzuarbeiten und ihr nicht hinterherzulaufen. Vorschläge wurden unterbreitet für eine rasche und konsequent antistalinistische Formierung der SED-PDS. Dazu gehört, sich schnell von ehemaligen leitenden Funktionären aus dem Parteiapparat auf allen Ebenen zu trennen, mit Ausnahme jener, die auf dem außerordentlichen Parteitag und in den Parteiwahlen von der Basis das Vertrauen erhielten und erhalten. Vollständig offengelegt werden müsse die gegen das Volk und auch gegen die Mitglieder der Partei gerichtete Verschwörung der Mitglieder der ehemaligen Partei- und Staatsführung sowie die verfassungswidrige Verschwörung zwischen Honecker, Mittag und Mielke und die verhängnisvolle Verflechtung leitender Funktionäre des alten Parteiapparates mit dem ehemaligen MfS. Die Mehrheit sprach sich gegen die Auflösung der Partei aus. In Erwägung gezogen wurde aber auch eine Fortsetzung des außerordentlichen Parteitages oder eine Urabstimmung.
Er stehe auf dem Standpunkt, die Partei müsse erhalten und erneuert wenden, sagte Gregor Gysi. Eine Auflösung sei politisch nicht zu verantworten. Damit gehe eine Kraft verloren, die nicht ersetzbar sei. Die Folgen waren Instabilität und Gefahren über des Land hinaus, auch für die Perestroika in der UdSSR, für die Grenzen zur Republik Polen.
Es gingen um eine Partei, es geht um unser Land selbst. "Und denken wir doch nur mal an eins", so Gysi, "Hans Modrow ist auch nur ein Mensch. Und wenn der Hans das Gefühl kriegt, unsres Solidarität lässt nach, dann wäre er am Ende." Bei allen Schwierigkeiten sei es jetzt euch wichtig, dass wir zu menschlicher Wärme und Anteilnahme finden.
Erklärung von Berliner Kreisvorständen
"Wir sind gegen die Aufforderung einzelner Genossen zur Selbstauflösung der Partei." Das unterstreichen Vorsitzende Berliner Kreisvorständen der SED-PDS in einer am Freitag abgegebenen Erklärung. "Es geht um die Regierung Modrow, die Regierbarkeit des Landes, den Erhalt einer souveränen DDR. Die Auflösung der Partei wäre eine ernsthafte Schwächung der Kräfte, die dafür eintreten. Die Gefahr einer unberechenbaren Situation in der Mitte Europas, von Anarchie und Chaos würde wachsen. Hunderttausenden ehrlichen Genossen, die die Lehren aus der Vergangenheit ziehen wollen, mit dem Stalinismus brechen, die Neuformierung vollziehen und sich für unser Land und seine Menschen engagieren, würde die politische Heimat geraubt."
(Neues Deutschland, Sa. 20.01.1990)