Vier aufregende Tage für die junge Sozialdemokratie in der DDR gingen gestern auf dem agra-Gelände in Leipzig-Markkleeberg zu Ende. In einem Sitzungsmarathon, die Samstag-Debatte reichte fast bis an Mitternacht heran, beschlossen die fast 500 Delegierten die Grundsatzdokumente der SPD in der DDR und wählten ihre Führungsgremien. Stellvertreter des neuen Parteivorsitzenden Ibrahim Böhme wurden der Leipziger Parteichef Karl-August Kamilli sowie Angelika Barbe und Markus Meckel aus Berlin. Zum Geschäftsführer wurde Stephan Hilsberg gewählt.
(Berliner Zeitung, Mo. 26.02.1990)
Leipzig (ADN). Die SPD der DDR verabschiedete gestern [25.02.] auf ihrem 1. Parteitag in Leipzig-Markkleeberg ihr Wahlprogramm. Zuvor hatte Parteivorsitzender Ibrahim Böhme die Grundzüge des Dokuments erläutert.
Wichtige Position darin ist der Fahrplan der Sozialdemokraten zur deutschen Einheit. Er stellt den deutschen Vereinigungsprozess in einen gesamteuropäischen Rahmen und sieht vor, dabei auch die Rechte und Interessen der vier Siegermächte sowie der deutschen Nachbarländer zu wahren. Die SPD plädiert für die Schaffung gesamtdeutscher politischer Institutionen, damit die Einigung kein chaotischer Anschluss, sondern ein geordnetes Zusammenwachsen wird. Eine umsichtige Reform der Rechtsordnung könne sichern, dass Marktwirtschaft, Mitbestimmung und soziale Sicherheit nicht auseinanderlaufen. Ferner müsse in der DDR eine Verwaltungsreform vollzogen werden, damit ein Bundesstaat der fünf Länder mit kommunaler Selbstverwaltung entsteht.
Im Wahlkampf bekennt sich die SPD zur Aufgabe einer grundlegenden Erneuerung des Landes im Prozess der Einigung beider deutscher Staaten. Die Sozialdemokraten könnten gegenwärtig nur eine sichere Koalitionsaussage machen: Niemals mit der PDS.
Gäste des Parteitages waren zahlreiche prominente SPD-Politiker der BRD, unter ihnen Ehrenvorsitzender Willy Brandt, der auch zum Ehrenvorsitzenden der DDR-SPD gewählt wurde.
Eine SPD-Delegation unter der Leitung von Böhme wird vom 28. Februar bis 2. März in die UdSSR reisen zu politischen Gesprächen mit Regierungsmitgliedern. Die Einladung dazu hatte Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow auf dem Parteitag ausgesprochen. Im Rahmen eines Programms außenpolitischer Konsultationen wird Böhme noch vor der Wahl am 18. März auch in den USA Gespräche führen.
(Berliner Allgemeine, Mo. 26.02.1990)
Eine SPD-Delegation unter Markus Meckels Leitung besuchte die USA.
Stephan Hilsberg schrieb am 11.06.1998 in der Zeitung "Der Tagesspiegel":
"Die SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR, spätere Ost-SPD) hat sich immer um die ehemaligen SED-Mitglieder bemüht. Dies belegt ein Dokument aus den Oktobertagen 1989, mit dem sie eingeladen wurden, sich in der Ost-SPD zu engagieren. Es kamen einige. Zu keiner Zeit aber haben sie Schlange gestanden. Die meisten ehemaligen SED-Mitglieder, die den Weg zur SPD fanden, hatten bereits vor der Wende mit der SED gebrochen. Zum Jahreswechsel änderte sich die Situation. Es gab Berichte von Unterwanderungsversuchen. Die Delegiertenkonferenz der Ost-SPD in Berlin im Januar empfahl deshalb der Basis, pingelig darauf zu achten, satzungswidrige Eintritte ehemaliger SED-Mitglieder zu vereiteln. Doch die Unterwanderungsversuche nahmen in besorgniserregender Weise zu.
Deshalb beschloss der Leipziger SPD-Parteitag im Februar 1990 mit überwältigender Mehrheit den legendären Aufnahmestopp ehemaliger SED-Mitglieder. Die SPD hatte damals keine andere Wahl, wenn sie nicht einen unverzichtbaren Teil ihrer eigenen Parteibasis preisgeben wollte. Die Protokolle dokumentieren die quälenden Diskussionen bis heute."
Richard Schröder schrieb über die Wahl Ibrahim Böhmes auf dem Parteitag: "Gegen alle Verabredungen hatte er sich vom ersten Parteitag der SDP (22.-25.2.90) sowohl zum Parteivorsitzenden als auch zum Spitzenkandidaten wählen lassen. Wir wussten, dass er keiner der beiden Aufgaben gewachsen war."
Richard Schröder, Hans Misselwitz (Hrsg.): Mandat für die Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz. Leske + Budrich, Opladen 2000, S. 164