Streiks Mai 1990


Do. 03.05.
"Täglich gehen bei uns Briefe und Fernschreiben vom Groß- und Einzelhandel ein, die ihre Verträge stornieren. Für das zweite Halbjahr will niemand mit uns abschließen. Da können wir dichtmachen." Bittere Worte der BGL-Vorsitzenden Ursula Sabrowske der Weißenfelser Schuhfabrik "Banner des Friedens". Sie marschierte an der Spitze der mehrere tausend Streikenden, die sich auf der Merseburger Straße versammelten. Seit Mitte April hatten die Schuhwerker an den Ministerpräsidenten, den Wirtschaftsminister und die Volkskammerpräsidentin geschrieben - keine Reaktion, nun platzte den Gewerkschaftern der Kragen.

"40 Jahre lang durften wir keinen eigenen Vertrieb aufbauen, nun wendet sich der Großhandel von heute auf morgen von uns ab." So Betriebsdirektor Bernd-Rüdiger Zutz, der mit beim Streik dabei war, dem die Arbeiter aber die "Legitimität", absprechen. Die Schuhfabrik hat derzeit Mehrbestände von 900 000 Paar Schuhen - andererseits beklagen Bürger, dass es in den Laden keine Schuhe zu kaufen gibt.

Die Schuhwerker fordern etwas Zeit für die Umstellung und mehr Freiheit bei der Preisbildung. Die 28jährige Arbeiterin Karlitta Kurzhals ist bereit, buchstäblich alles mitzumachen, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten. "Wenn gar nichts mehr geht, müssen wir eben versuchen, die Solidarität derer zu gewinnen, in deren Betrieben es noch nicht so ernst aussieht." Zu starken Betriebsräten und starken Gewerkschaften bekannten sich deshalb alle Redner.

Am Donnerstagnachmittag legten auch Beschäftigte der Hirschberger Lederfabrik, der Lederwerke und der Schuhfabrik in Weida, der Schuhfabriken in Erfurt, Stadtilm, Bad Langensalza, Lobenstein, Lauchhammer, Hohenleuben, Ehrenfriedersdorf, Eppendorf und Lößnitz sowie in Berlin zeitweise die Arbeit nieder.

Erfurt. Mit einem halbstündigen Warnstreik machten am Donnerstag ab 14.00 Uhr rund 3 000 Beschäftigte der Schuhfabrik "Paul Schäfer" Erfurt, der Sportschuhfabrik Ilmia Stadtilm und der Leder- und Schuhfabrik Bad Langensalza auf drohende Arbeitslosigkeit aufmerksam. Wie BGL-Vorsitzender Wolfgang Kliemann erläuterte, haben die Handelsorgane über eine halbe Million Paar Schuhe im II. Quartal storniert und für das 2. Halbjahr keine neuen Verträge abgeschlossen. Dies sei um so verwunderlicher, als die Läden einerseits zwar die Nachfrage nicht befriedigten, andererseits jedoch schon mit Angeboten aus dem Westen und aus Billiglohnländern spekulierten. Bei "Paul Schäfer" drohe das Aus für rund 3 500 Werktätige.

Weißenfels. Lahmgelegt hatten auch die 6 500 Beschäftigten der Schuhfabrik "Banner des Friedens" in Weißenfels bei einem einstündigen Warnstreik die Produktion und den Verkehr auf der F 91, wo sie auf einer Kundgebung ihre Forderungen nach klaren Konzepten der Regierung stellten.

Karl-Marx-Stadt. Auch in Schuhfabriken des Bezirkes Karl-Marx-Stadt traten am Donnerstag Werktätige mit kurzen Warnstreiks für die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze ein. Sie protestierten gegen die Weigerung des Großhandels, Erzeugnisse ihrer Betriebe abzunehmen.

Gera. Drei Viertel der Beschäftigten in der Hirschberger Lederfabrik hatten sich einem halbstündigen Warnstreik angeschlossen. Sie forderten von der Regierung unter anderem die Erhebung von Einfuhrabgaben für Schuhe und Leder aus der BRD.

Geschlossen ging die Belegschaft der Schuhfabrik Lauchhammer auf die Straße vor ihrer erst im April 1989 übergebenen neuen Produktionsstätte. Dem Aufruf der IG Textil, Bekleidung, Leder zum Warnstreik gefolgt, protestierten die Werktätigen entschieden gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Auf Transparenten forderten sie von der DDR-Regierung den Handel zur Abnahme ihrer Erzeugnisse zu zwingen.

Mi. 09.05.
Für einen wirkungsvollen Sozialplan, der arbeitslos werdende Mitarbeiter ausreichend absichert, organisierten Werktätige des Parchimer Hydraulikwerkes am Mittwoch einen einstündigen Warnstreik. Rund die Hälfte der 2 300 Beschäftigte versammelten sich vor dem Verwaltungsgebäude, um ihrer Forderung nach Überbrückungsgeldern und Abfindungen Nachdruck zu verleihen.

Do. 10.05.
Die von den Gewerkschaften am Vortag angekündigten landesweiten Protestdemonstrationen gegen mögliche negative Auswirkungen des Staatsvertrages haben gestern zum Teil erhebliche Ausmaße erreicht.

Groß war die Resonanz vor allem bei den Bauern, Pädagogen und Kindergärtnerinnen sowie bei den Beschäftigten der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie.

Auf dem Berliner Marx-Engels-Platz versammelten sich rund 2 000 Streikende, um Bildungsminister Prof. Dr. Hans Joachim Meyer zu Verhandlungen aufzufordern. Zuvor waren mancherorts, wie im Stadtbezirk Hohenschönhausen, die Kindergärten und Schulen für einige Stunden geschlossen worden.

Von der aufgebrachten Menge vor der Volkskammer sichtlich beeindruckt, versuchte Minister Meyer die Wogen zu glätten. Er bekundete Verständnis für die Sorgen der Lehrer. Auf Beispiele aus dem Bildungsalltag, wonach geltendes Arbeitsrecht längst gebrochen werde, wusste er allerdings nichts anderes zu antworten, als dass "so etwas ungesetzlich" sei. Er wolle sich ein genaueres Bild verschaffen, wozu die zahlreichen ihm übergebenen Schreiben helfen sollen.

Die Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, die zur landesweiten Protestdemonstration aufgerufen hatte, wertete diese inzwischen als erfolgreich. Erreicht worden sei, dass es Verhandlungen mit dem Ministerium geben werde.

Auch Sozialministerin Dr. Regine Hildebrandt sprach zu den vor der Volkskammer Versammelten. Sie kritisierte die bisherigen Verhandlungen beider deutscher Staaten zum Staatsvertrag. Sie verlangte die Abwendung der Gefahr, dass in der DDR die sozial Schwachen "völlig unter die Räder kommen".

PDS-Vorsitzender Gregor Gysi sprach beiden Ministern seinen Respekt dafür aus, dass sie im Unterschied zu anderen Regierungsmitgliedern wenigstens bereit seien, Rede und Antwort zu stehen. Das eigentliche Problem bei der Aushandlung des Staatsvertrages sehe er darin, "dass hier auf alte Art und Weise versucht wird, Geheimdiplomatie zu entwickeln".

Mit einer Verkaufsaktion auf dem Alexanderplatz protestierten Dutzende von Schuh- und Textilbetrieben dagegen, dass der DDR-Großhandel seit Jahresbeginn die Produkte nicht mehr abnehme. In Berliner Textilbetrieben war ein einstündiger Warnstreik vorausgegangen.

Warnstreiks und Protestaktionen wurden aus allen Teilen der DDR gemeldet. So standen auch in den sächsischen Betrieben der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie für eine Stunde die Maschinen still. Mit Grenzblockaden und Straßensperrungen machten die Bauern erneut auf ihre Probleme aufmerksam.

Beschäftigte der Schuhindustrie in Weißenfels demonstrieren am Vormittag. Die dortige Saale-Brücke wird von 10 bis 12 Uhr blockiert.

Die Gewerkschaft Unterricht und Erziehung ruft zum Warnstreik im Bildungswesen auf. Der Aufruf wird nicht in allen Schulen befolgt.

Do. 17.05.
Zu halbstündigen, von der Gewerkschaft der Eisenbahner organisierten Arbeitsniederlegungen kam es am Donnerstag auf den Bahnhöfen Karl-Marx-Stadt und Gera-Hauptbahnhof, Stendal, Bitterfeld, Templin, Rostock und im Bahnbetriebswerk Magdeburg.

In der Elbestadt verursachten die Arbeitskampfmaßnahmen den Stillstand des gesamten Rangierbetriebes im Raum Magdeburg. In Karl-Marx-Stadt wurden drei D-Züge, ein Eilzug sowie drei Personenzüge mit etwa 600 Reisenden nicht fahrplanmäßig abgefertigt In Gera forderten am Morgen etwa 500 Eisenbahner mit ihrem 30-Minuten-Warnstreik eine Einkommenszulage von 300 Mark für die mit der Währungsunion zu erwartenden Teuerungen.

Vom Verkehrsminister war dies abgewiesen worden. Im Reichsbahndirektionsbezirk Schwerin beteiligten sich die Fahrkartenausgaben von sechs Bahnhöfen. Betroffene Reisende zeigten größtenteils Verständnis für die Beeinträchtigung des Verkehrs. Zwischen Warnemünde und Rostock standen die S-Bahn-Züge still. Die 130 Rostocker Eisenbahner protestierten damit gegen die Hinhaltetaktik des Verkehrsministers. Der amtierende Dienststellenleiter drohte nun offen mit Disziplinarmaßnahmen für alle Beteiligten.

Verhandlungen des geschäftsführenden Vorstandes der Eisenbahnergewerkschaft (GdE) mit dem Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn waren am Vortag erneut um eine Woche vertagt worden.

Landesweite Protestaktionen der Landbevölkerung sind nach Angaben der Pressestelle der Landwirtschaftsverbände für nächsten Montag vorgesehen.

Fr. 25.05.
Mit einem einstündigen Warnstreik forderten am Freitagnachmittag die Beschäftigten der Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt schnelle Regierungsentscheidungen im Interesse weiterer Produktion im DDR-Automobilbau. Voller Sorge verwiesen die Barkas-Werker auf ihre gefährdeten Arbeitsplätze. Etwa 2 500 Werktätige des Großbetriebes, in dem unter anderem die Motoren für alle PKW der Republik gefertigt werden, hatten sich vor dem Werktor versammelt. Wie Betriebsdirektor Siegfried Bülow informierte, sind den Barkas-Werken, die Absatzsorgen haben, von der Deutschen Kreditbank AG per 1. Juni die Kredite gekündigt worden. Die Lohn- und Gehaltszahlungen seien dadurch zwar nicht beeinflusst, doch könnten keine Rechnungen mehr bezahlt werden. Der Leiter der Geschäftsstelle der IG Metall im Betrieb, Gerald Richter, forderte von der Regierung Förderungsmaßnahmen einschließlich Subventionen für die Fahrzeuge Trabant 1.1 und Wartburg 1.3 bei der Produktionsumstellung.

Die Barkaswerker schließen sich dem Warnstreik im Automobilwerk Sachsenring Zwickau am Freitag um 13.00 Uhr an. Einer von der Gewerkschaftsleitung der Barkaswerke verbreiteten Presseerklärung zufolge werden von der Regierung Förderungsmaßnahmen für den DDR Automobilbau, einschließlich von Subventionen für den Trabant 1.1 und den Wartburg 1.3 in der Phase der Produktionsumstellung, gefordert. Außerdem sollen die Rahmenbedingungen für eine reale Umbewertung der Altlasten der Betriebe geklärt werden. Verlangt wird die sofortige Zulassung aller Banken, die sich in der DDR bewerben. Damit solle die Monopolstellung der Deutschen Kreditbank AG aufgehoben werden, die notwendige Kredite auf Grund ausstehender Regierungsbeschlüsse sperre.

Im Abfertigungsgebäude des Flughafens Schönefeld lief gestern Mittag für eine Stunde gar nichts mehr. Die BGL des Bereiches Flughafen hatte für 11 Uhr einen Warnstreik ausgerufen.

Eigentlich sollten sich alle Mitarbeiter der Interflug in Schönefeld beteiligen, aber einigen Leitern gelang es, Beschäftigte mit Drohungen so einzuschüchtern, dass die angekündigten disziplinarischen Folgen schwerer wogen. Gekommen waren dennoch genug. Sie machten sich auf dem Parkplatz lautstark Luft und warfen der Geschäftsführung vor, dass sie an den Interessen der Belegschaft vorbei regiere. Ein Beitrag in der "Berliner Zeitung" habe jetzt das Fass zum Überlaufen gebracht, meinten einige. Darin hatte der Hauptgeschäftsführer angedeutet, dass die auch um die Interflug keinen Bogen machen werde. Jetzt, so die Streikenden, habe man Angst um die Arbeitsplätze und keiner sage, wie es weitergehen soll.

Kurt Zube, einer der Geschäftsführer, versuchte mühsam zu schlichten. Die Antworten, die er gab, befriedigten die wenigsten. Sie beharrten auf ihren Forderungen. Dazu gehören die Offenlegung der Finanzen und neuer Strukturen der Interflug sowie die Unterzeichnung eines Schutzabkommens für die Beschäftigten. Ab Montag soll es zu regelmäßigen Gesprächen mit der Geschäftsführung kommen, um mögliche Unsicherheiten auszuräumen. Von Seiten der BGL war zu hören, dass es zum Streik kommen werde, wenn die Gespräche erfolglos verlaufen wurden.

Mo. 28.05.
Montagmorgen neun Uhr. In den Zwickauer Sachsenring-Automobilwerken stehen die Räder still. Die Vertrauensleute der IG Metall den Betriebes haben zu einem einstündigen Warnstreik aufgerufen. Es geht um das Überleben des Betriebes, um die Sicherung der Arbeitsplätze für Tausende Beschäftigte.

Vor Wochen bereits hatte sich die IG Metall und auch die Leitung des IFA-Kombinates an die Regierung de Maizière mit der Forderung gewandt, notwendige Entscheidungen im Interesse der Zukunft des Betriebes und des gesamten sächsischen Automobilbaus sowie seiner Zulieferer zu treffen. Bis heute blieb jede Antwort aus.

7 500 Arbeitsplätze seien allein im Zwickauer Automobilwerk in Gefahr. Die Zahlungsfähigkeit des Betrieben sei nicht mehr gegeben. Die Kreditbank AG habe alle Kredite gesperrt. So umriss BGL-Vorsitzender Fritz Warth auf einen Meeting die Situation. Um den Betrieb aus der Talsohle herauszuführen und bis zum vollen Anlauf der Produktion des VW-Polo zu stabilisieren, schlug der BGL-Vorsitzende der Regierung unter anderem die Streichung der Schulden des Betriebes, eine Abnahmegarantie durch den Staat für alle IFA-Fahrzeuge, die Aussetzung von Steuerzahlungen des Betriebes bis 1993/94 und die Bereitstellung von Sozialmitteln für Altersregelungen, für Kurzarbeit und für Umschulungsmaßnahmen vor.

Die Geduld der IG Metall sei zu Ende, unterstützte auch Hans-Joachim Richter von der Geschäftsstelle Karl-Marx-Stadt die Forderungen der Streikenden bei Sachsenring Zwickau und weiterer IFA-Betriebe. Jetzt müssten schnellstens klare Entscheidungen der Regierung getroffen werden. Um sie notfalls zu erzwingen, bedürfe es der Solidarität und des gemeinsamen Handelns aller Automobilbauer.

Als Zulieferer auf Gedeih und Verderb mit Sachsenring Zwickau verbunden sind die 2 500 Beschäftigten des Kraftfahrzeugwerkes "Ernst Grube" Werdau. Sie wollen Klarheit über ihre Zukunft. Bis zur für 1993/94 zugesicherten Achsenproduktion ist ein großes Loch in Sicht. Heinz Fischer, stellvertretender BGL-Vorsitzender: "Was bisher mit BRD-Firmen als Füllproduktion ausgehandelt wurde, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Antwort der Leitungen auf unsere Fragen zum Arbeitsbeschaffungsprogramm war heute lediglich: Vollbeschäftigung kann nicht gesichert werden. Mit dieser Aussage können wir nicht leben. Das soll die Regierung wissen." Mehr Wind in diese Angelegenheiten sollen in Kürze die neuen Geschäftsleiter der GmbH bringen. Die BGL hatte die eingesetzten Personen abgelehnt und eine Ausschreibung der Posten gefordert. (Tribüne, Di. 29.05.1990)

Schnelle Entscheidungen der Regierung im Interesse der weiteren Produktion im DDR-Automobilbau forderten am Montagvormittag die Werktätigen des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau, des VEB Kraftfahrzeugwerk Werdau und des VEB Karosseriewerk Meerane mit einem einstündigen Warnstreik. Bereits am Freitag hatten die Beschäftigten der Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) kurzfristig die Arbeit niedergelegt und die umgehende Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze im Industriezweig gefordert.

Schnelle Entscheidungen der Regierung im Interesse der weiteren Produktion im DDR-Automobilbau forderten am Montagvormittag die Werktätigen des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau, des VEB Kraftfahrzeugwerk Werdau und des VEB Karosseriewerk Meerane mit einem einstündigen Warnstreik. Bereits am Freitag hatten die Beschäftigten der Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) kurzfristig die Arbeit niedergelegt und die umgehende Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze im Industriezweig gefordert.


Alle Angaben sind Auszüge aus den Chronikseiten Mai 1990 www.ddr89.de. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.

Δ nach oben