Die Deutsche Soziale Union (DSU) in der DDR scheint vor der Zerreißprobe zu stehen. Nach dem Austritt von DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel aus der von ihm mitbegründeten Partei folgten am Wochenende auch andere führende Parteipolitiker diesem Schritt. So gaben der auf dem ersten offiziellen DSU-Parteitag am Sonnabend in Leipzig unterlegene bisherige Parteichef Joachim Hubertus Nowack, der Staatssekretär im DDR-Landwirtschaftsministerium, Dieter Schwarze, sowie Generalsekretär Ralph Schick ebenfalls ihre Parteibücher zurück. Die neue Führungsmannschaft der DSU unter Hansjoachim Walther, so die Begründung, sei nicht geeignet, die bevorstehenden Aufgaben und Probleme in christlich-konservativem Sinne zu lösen. Auch der frühere DSU-Vorsitzende und jetzige DDR-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Hans-Wilhelm Ebeling, sprach von einem Rechtsrutsch in seiner Partei. Wenn die DSU so weitermache, könne sie bald am Ende sein. Nach wochenlangen Kontroversen mit seiner eigenen Partei hatte Diestel am Sonnabendabend seinen Austritt in einer Erklärung vor dem Parteitag verlesen lassen - kurz nachdem zuvor der DSU-Fraktionsvorsitzende in der DDR-Volkskammer, Prof. Hansjoachim Walther, mit klarer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden gewählt worden war. Der umstrittene Minister begründete seine Entscheidung mit der Entwicklung der DSU, in der er teilweise rechtsradikale Tendenzen sieht, und der anhaltenden Diskussion um seine Person bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes. Lothar de Maizière hat mittlerweile erklärt, er habe keine Veranlassung zu einer Kabinettsumbildung. Am Vormittag hatte der bisherige Parteichef Nowack mitgeteilt, dass in den nächsten Tagen auf Initiative der Partei eine Schlesische Landsmannschaft gegründet wird.
(Berliner Zeitung, Mo. 02.07.1990)
Prof. Hansjoachim Walther wurde am Sonnabend auf dem 2. Parteitag der Deutschen Sozialen Union in Markkleeberg bei Leipzig zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Kurz danach erklärte Innenminister Dr. Peter Michael Diestel wie angekündigt seinen Austritt aus der Deutschen Sozialen Union.
Der 51jährige Walther tritt die Nachfolge von Joachim Hubertus Nowack an, der in der geheimen Abstimmung mit 147 zu 334 Stimmen unterlag. Die knapp 500 Delegierten bestätigten außerdem Alexander Achminow als neuen Generalsekretär. Damit hat die im Januar in Leipzig gegründete konservative Partei zum ersten Mal eine demokratisch legitimierte Führung. Unmittelbar nach dem Votum hatte Diestel der neuen Führungsriege gratuliert.
Diestel begründete seinen Austritt damit, dass die weitere Konsolidierung der DSU mit Diskussionen um seine Person nicht mehr belastet werden solle. Damit reagierte er auf die sich vollziehende jüngste Entwicklung in der DSU, insbesondere auf das Abrücken einiger Kräfte von der Programmatik der Partei. Die fortwährend gegen ihn gerichteten haltlosen Vorwürfe erschwerten erheblich die Erfüllung seiner Regierungsaufgaben und belasteten die gesamte Tätigkeit des Kabinetts. Sein sehnlichster Wunsch sei es, dass die Partei auf dem Wege der Erfüllung des Programms weiter voranschreitet und einen konstruktiven Beitrag für ein geeintes Deutschland leistet.
Als Sitz der Bundesgeschäftsstelle setzte sich in einer Stichwahl Leipzig gegen Berlin durch.
Der DSU-Parteitag hat DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel wegen der Art und Weise seines Parteiaustritts "mangelnden politischen Anstand" vorgeworfen und erklärt, Diestel habe sich der Verantwortung vor der Partei entzogen. Statt sich dem politischen Disput zu stellen, habe er es vorgezogen, mit einer vorbereiteten Austrittserklärung in der Tasche zu erscheinen und im Präsidium des Parteitages Platz zu nehmen, heißt es in einer am Samstagabend in Leipzig veröffentlichten Erklärung, die im Auftrag des Parteitages ausgearbeitet, jedoch erst nach Abschluss des Parteitages fertiggestellt worden war. Nach Ansicht von Ebeling seien Änderungen jedoch im Ministerkabinett schon vor dem Hintergrund, dass es diese Regierung vermutlich nur noch bis Dezember gebe, nicht sehr sinnvoll. Er reagierte auf DSU-Forderungen, die Diestels Rücktritt beinhalten.
Diestel ist in der Ost-CDU willkommen. "Wir haben alle Fehler gemacht, aber wir sind ja auch keine Polit-Profis", sagte der Minister im Amt des Ministerpräsidenten der DDR und CDU-Vorsitzende von Sachsen, Klaus Reichenbach, in einem am Sonntag vorab veröffentlichten Interview der "Bild"-Zeitung. Er wisse, dass Diestel zur CDU kommen wolle. Ihm persönlich sei Diestel gerne willkommen, betonte Reichenbach. Diestel verliere zwar nach geltendem Wahlrecht durch den Austritt aus der DSU sein Mandat in der Volkskammer, könne als Parteiloser oder als CDU-Mitglied jedoch Minister bleiben.
Diskussionsgegenstand waren die Position der DSU zum Rechtsradikalismus, das Verhältnis zur bayrischen Schwesterpartei CSU und zu den Koalitionspartnern in der DDR-Regierung. CSU-Vorsitzender Dr. Theo Waigel orientierte auf Eigenständigkeit und Zusammenarbeit mit der DSU. Der CSU-Chef wurde zum Ehrenvorsitzenden der ostdeutschen Schwesterpartei gewählt. Die politische Verwandtschaft beider Parteien müsse man an ihren Programmen erkennen. Mit Blick auf die Ost-CDU sagte der BRD-Finanzminister, man dürfe das konservative Lager nicht spalten. Ex-DSU-Parteichef Hans-Wilhelm Ebeling vertrat die Ansicht, seine Partei solle mit beiden christlichen Kräften der Bundesrepublik zusammenarbeiten. Er forderte die Anerkennung der Republikaner in der DDR, um sich mit ihnen auseinandersetzen und von ihnen abgrenzen zu können.
Am Vormittag hatte Joachim Hubertus Nowack mitgeteilt, dass in den nächsten Tagen auf Initiative der Partei eine Schlesische Landsmannschaft in Halle gegründet wird.
In der Aussprache war die Unzufriedenheit der Basis mit der Arbeit des bisherigen Bundesvorstandes spürbar geworden. Kritikwürdig seien der Informationsmangel in den Kreis- und Ortsverbänden sowie die Alleingänge von Mitgliedern der ehemaligen DSU-Spitze.
(Neue Zeit, Mo. 02.07.1990)
Peter-Michael Diestel hält eine kurze Rede auf dem Parteitag, die von Unmutsäußerungen begleitet wird. Beifall kommt auf, als sein Austritt aus der DSU bekannt wird.
Der in München geborene und zum neuen Generalsekretär gewählte Alexander Achminow nahm die DDR-Staatsbürgerschaft an.
Theo Waigel spricht sich gegen eine Ausweitung der CSU über Bayern hinaus aus.
"DSU und CSU für Deutschland in Freiheit und Wohlstand", lautet das Motto des Parteitags.