Mi. 2. August 1989


Die Zeitungen des Axel Springer Verlages schreiben die DDR nicht mehr in Anführungszeichen.

In der Zeitung Welt, online, ist am 01.08.2009 zu lesen:

"Die DDR hatte der WELT seit Jahren eigene Korrespondenten vor Ort verwehrt. Als sich in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre in Polen und Ungarn für den Axel Springer Verlag neue Märkte und journalistische Möglichkeiten eröffneten, wurden die 'Tüttelchen' zunehmend zum Problem."

Und: "Erst im Nachhinein erwies sich, dass die Entscheidung genau zur rechten Zeit fiel. Oder hätte man wenig später angesichts der atemberaubenden Erfolge der friedlichen Revolution die DDR noch in Gänsefüßchen schreiben sollen?"

In der Welt am Sonntag am 04.08.2019 schreibt Lars-Broder Keil: "Im Westen schreckten die Gänsefüßchen, so die Analyse des Vorstandes, sowohl die Anzeigenkunden als auch jüngere Lesergruppen ab".

Und: "Dass das DDR-Regime sich seit Jahren weigerte, Korrespondenten von Axel Springer zu akkreditieren, betrachtete die Redaktion als publizistischen Nachteil gegenüber der Konkurrenz und für den Anspruch, direkter über den DDR-Alltag zu berichten".

Der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, bezeichnete auf der selben Seite in der Welt am Sonntag das Weglassen der Anführungszeichen "einen historischen Fehler und eine opportunistische Peinlichkeit in der Geschichte des Hauses Axel Springer".


Die "Tüttelchen" . . .

Eher, so hatte noch bis kurz vor seinem Tode der Pressezar Axel Cäsar Springer versichert, werde ein Kamel durchs Nadelöhr gehen, als daß in einem seiner Blätter der Name DDR ohne Anführungszeichen gesetzt würde. Und so wachten denn ganze Heerscharen bei "Welt", "Bild" und "Morgenpost mit Argusaugen darüber, daß die DDR stets mit "Tüttelchen", wie es im Verlagsjargon hieß, geschrieben wird.

Das beileibe nicht nur bei politischen Ereignissen, sondern auch in Sport, Kultur oder anderen Bereichen. "DDR"-Sportler gewannen bei Olympischen Spielen Medaillen, "DDR"-Künstler gastierten erfolgreich auf internationalen Bühnen, in der "DDR" wurde ein Kalb mit zwei Köpfen geboren und was dergleichen lächerliche Verrenkungen mehr waren. Wehe dem Redakteur, der gegen dieses eherne Gesetz verstieß!

Was keiner, Axel Cäsar wohl am allerwenigsten, für möglich gehalten hätte, es ward Ereignis: Seit Mittwoch, dem 2. August, schreiben die "Welt" und andere Springer-Blätter die DDR ohne "Tüttelchen". Diese Entscheidung von "wahrhaft historischer Tragweite" ist, wie man hauseigenen Kommentaren entnehmen kann, nicht leichtgefallen. "Wir haben", bekannte der Chefredakteur, "das lange diskutiert." Man hört förmlich das Springer-Hochhaus in seinen Fugen ächzen. Oder ist es Axel Cäsar, der sich im Grabe umdreht?

Wie auch immer: Für uns ist es unerheblich, ob uns die "Welt" mit oder ohne Anführungszeichen schreibt. Vor dem Irrtum, aus dem Wegfall der Gänsebeine auf einen Gesinnungswandel zu schließen, bewahrt uns dankenswerterweise das Blatt selbst. "Die deutschlandpolitische Grundhaltung der WELT", so ist schwarz auf weiß zu lesen, "gilt unverändert." Was darunter zu verstehen ist, weiß man spätestens seit den revanchistischen Auslassungen von Waigel, Schönhuber und anderen, denen das Blatt Tribüne ist, zur Genüge. Die "Tüttelchen" in den Zeitungsspalten verschwinden - nicht aber in den Köpfen . . .

Pro

Neues Deutschland, Do. 03.08.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 181

Ein Thema auf der Kabinettssitzung der Bundesregierung ist die Problematik der Ausreisewilligen aus der DDR. Eine Lageeinschätzung und praktische Belange sind dann dort wöchentliches Thema.

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