So. 19. August 1990

• • Die SPD tritt aus der Regierungskoalition aus

    • Berlin. Peter Horn/ADN Die SPD tritt aus der Regierungskoalition aus. Das gab in einer Pause während einer mehrstündigen Debatte in der Volkskammerfraktion am gestrigen Abend SPD-Chef Thierse gegenüber der Presse bekannt.

      60 Abgeordnete stimmten für den Austritt, dagegen waren fünf unter ihnen Fraktionsvorsitzender Schröder - und vier enthielten sich der Stimme. Die Schuld dafür wies Thierse dem Ministerpräsidenten und Staatssekretär Krause zu, die im parteitaktischen Zusammenspiel mit Helmut Kohl die Regierungspolitik zum Scheitern gebracht hätten. Einigkeit bestehe aber in der Fraktion, an einem Einigungsvertrag festzuhalten.

      Die SPD wird nach ihrem Ausstieg aus der Koalition auch ihre Minister aus dem Kabinett von Lothar de Maizière (CDU) abziehen. Alle Minister und parlamentarischen Staatssekretäre der SPD werden heute ihren Rücktritt erklären.

      Als eine "Flucht vor der Verantwortung" hat DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière den Austritt der SPD aus der Regierungskoalition bezeichnet. Er bedaure den Schritt der Sozialdemokraten, zu dem seiner Meinung nach keine Veranlassung bestanden habe. Unabhängig von der SPD-Entscheidung erklärte de Maizière in einem Statement in seinem Amtssitz in Berlin weiterhin seine ständige Gesprächsbereitschaft, "weil wir im Interesse der Menschen in der DDR die schwierigen Probleme gemeinsam losen müssen".

      Der Brisanz der Situation geschuldet, hatte die Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, zuvor an der Sitzung des Fraktionsvorstandes teilgenommen, um, wie sie auf Anfrage von BZ erklärte, an die SPD zu appellieren, ihre Minister im Amt zu belassen.

      Rechtlich sei die Abberufung der vier Minister durch den Premier nicht eindeutig, sagte Frau Bergmann-Pohl nach dem Gespräch. Sie werde Rechtsexperten konsultieren, da die Geschäftsordnung der Volkskammer keinen eindeutigen Hinweis auf die Verfahrensweise bei einer Abberufung gebe.

      Ministerpräsident Lothar de Maizière ließ indes durch die stellvertretende Regierungssprecherin Dr. Angela Merkel mitteilen, dass die Äußerungen von Frau Bergmann-Pohl vor der SPD-Fraktion sachlich nicht richtig seien. Wer berufen könne, könne auch abberufen, es sei denn, die Verfassung würde anderes ausdrücklich regeln. Regierungssprecherin Merkel informierte, dass der Premier die vier Staatssekretäre, die die Ämter der entlassenen Minister wahrnehmen sollen, zu amtierenden Ministern berufen hat.
      (Berliner Zeitung, Mo. 20.08.1990)

  • "Die Grünen/Bündnis 90" diskutieren ein gemeinsames Wahlprogramm

    • Berlin. ADN/BZ Die unter dem Namen "Die Grünen/Bündnis 90" zur gesamtdeutschen Wahl antretenden DDR-Bürgerbewegungen und Grüne aus Ost und West diskutierten gestern ein gemeinsames Wahlprogramm, das Eckpunkte "neuer, alternativer Politik" beinhaltet.

      Der Entwurf enthielt unter anderem die Forderung nach einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Darin sollen neben der gesetzlichen Gleichstellung der Geschlechter auch das "Grundrecht auf Arbeit, Wohnung, Bildung und medizinische Betreuung" verankert werden. Gestern beriet die Wahlplattformgruppe letzte redaktionelle Veränderungen. Wie aus Teilnehmerkreisen verlautete, wollen die Bündnispartner Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum, Unabhängiger Frauenverband, Grüne Partei der DDR, Vereinigte Linke und die Bundes-Grünen nun auch neben der Abgrenzung zur PDS zugleich eigene Positionen gegenüber CDU und SPD deutlich machen.

      Teilnehmer eines Basistreffens von Bürgerbewegungen aus allen Teilen der DDR hatten am Sonnabend in Berlin ihre Absicht erklärt, eine wahlfähige politische Vereinigung zu gründen. Sie soll als Wahlbündnis "Die Grünen/Bündnis 90" eine starke alternative Kraft zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen werden und die Basis für eine Listenverbindung mit den Grünen der Bundesrepublik schaffen. Ein entsprechender Beschluss wurde ohne Gegenstimmen verabschiedet.
      (Berliner Zeitung, Mo. 20.08.1990)

  • Ärzte und Zahnärzte gegen Niederlassungszwang

    • Die überwiegende Zahl der über 30 000 ambulant tätigen Ärzte und Zahnärzte in der DDR will die bestehenden Strukturen nicht zugunsten einer eigenen Niederlassung aufgeben. Die Freiheit im ärztlichen Denken und Handeln soll nicht mit neuen Abhängigkeiten von Banken und medizinischen Konzernen erkauft werden. Auf einer Zusammenkunft der Vereinigung der Polikliniken und Ambulatorien e. V. am Wochenende in Potsdam sprachen sich Ärzte und Zahnärzte aus der ganzen Republik für die Umwandlung vorhandener Institutionen in effiziente Gesundheitszentren und Ärztehäuser aus. Sie forderten entsprechende Festschreibungen in den Anlagen zum zweiten Staatsvertrag, der die Tätigkeit dieser Einrichtungen auf fünf Jahre begrenzen will.

      Die Ärzte wandten sich gegen jeglichen Niederlassungszwang; notfalls werden sie auch auf die Straße gehen. Unterstützung erhielten die Mediziner von Konsistorialpräsident Dr. Manfred Stolpe, der betonte, dass nicht diejenigen Opfer werden dürften, die jahrelang unter ungünstigen Bedingungen durchgehalten und die medizinische Betreuung gesichert haben. Es sei jedoch notwendig, in den Selbstverwaltungen aktiv zu werden und das Sagen nicht denen zu überlassen, die gegen Gesundheitshäuser sind.

      Unzufrieden jedoch sind auch die niederlassungswilligen Ärzte, von denen wohl einige glauben, auf Kosten vorhandener Einrichtungen günstig zu einer eigenen Praxis zu gelangen. Sie fordern für sich allseitige Unterstützung und eine sofortige Übernahme der bundesdeutschen Gebührenordnung. Die zur Beschlussfassung vorliegende Krankenkassenvertragsordnung indes will die Leistungen zunächst auf 50 bis 60 Prozent reduzieren. Das reicht zwar - wie Fachleute aus Ost und West einhellig betonen zum Betrieb einer Praxis, doch notwendige Investitionskosten könnten damit nicht getilgt werden. Zusätzliche Maßnahmen wie zinslose Kredite und bevorzugte Bereitstellung von Berufsräumen sollen flankierend die freiberufliche Tätigkeit von Ärzten und Zahnärzten unterstützen.

      Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es am Ende für beide nicht reicht. Und was wird dann aus den Patienten?
      Hannelore Hübner
      (Neues Deutschland, Mo. 20.08.1990)

  • Treuhandanstalt Es liegen bisher über 200 Anträge auf eine Übernahme oder Beteiligung an DDR-Unternehmen vor

    • Der Ost-Berliner Treuhandanstalt liegen bisher über 200 Anträge auf eine Übernahme oder Beteiligung an DDR-Unternehmen vor. Darauf wies das Bundeswirtschaftsministerium am Sonntag in Bonn hin. Die Frage einer Beteiligung sei jedoch erst in wenigen Fällen entschieden.
      (Neue Zeit, Mo. 20.08.1990)

  • Kirchenein- und Austritte

    • Eisenach (ADN). Eine steigende Tendenz bei Kircheneintritten, Taufen, Trauungen und der Teilnahme an der Christenlehre verzeichnet die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen. Das widerspiegele sich auch im finanziellen Bereich, teilte die Thüringer Landeskirche mit.

      Bei einer ersten Auswertung des kirchlichen Lebens nach der Wende in der DDR sei festgestellt worden, dass "die an einigen Orten vor der Währungsunion zu verzeichnende Austrittswelle" zu 95 Prozent "ehemalige Zahlungsverweigerer" betraf. Sie gehörten zwar nominell zur Kirche, hätten aber seit Jahren deren finanzielle Lasten nicht mitgetragen.
      (Neues Deutschland, Mo. 20.08.1990)

  • Ausbildungsstopp für PLO-Soldaten in der DDR

    • Berlin. ADN/BZ Die Ausbildung aller 31 palästinensischen Offiziersschüler an den NVA-Offiziershochschulen Prora und Stralsund wird bis zum endgültigen Beschluss des DDR-Kabinettes ausgesetzt.

      Über diese Entscheidung informierte Abrüstungs- und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann gestern auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin.

      Als "in höchstem Maße verantwortungslos" bezeichnete Eppelmann Veröffentlichungen der "Welt am Sonntag". Das Blatt hatte behauptet, in einer Dschungelkampfschule der NVA auf Rügen würden irakische Offiziere ausgebildet - "zusammen mit PLO-Angehörigen und anderen Kräften der internationalen Terrorszene aus Libyen, Mocambique und Angola". Eben sowenig sei das Stabsmanöver "Nordwind" mit Stoßrichtung Bundesrepublik konzipiert. Es seien ausschließlich Verteidigungshandlungen in Nord-Süd-Richtung geplant. Der Minister kündigte an, sich rechtliche Schritte gegen die Zeitung vorzubehalten.

      Eppelmann verwies zugleich auf die gültigen Verträge, auf deren Grundlage die Nationale Volksarmee der DDR gegenwärtig 489 Militärs aus elf Staaten ausbildet. Unter ihnen befinden sich 31 PLO-Mitglieder, 29 Libyer und 130 Jemeniten. Zur Ausbildung von Irakern in der DDR-Armee führte Eppelmann aus, 1979 seien sechs Sportoffiziere in einem sechswöchigen Kurs in der Organisation des Dienstsportes unterwiesen worden. "Seither wurden an keiner Lehreinrichtung der NVA irakische Militärangehörige ausgebildet."

      Die DDR und die NVA haben den Irak nicht bei der Vorbereitung der chemischen Kriegführung unterstützt. "Sie hat auch - darauf lege ich besonderen Wert - keine chemischen Kampfstoffe geliefert." In den achtziger Jahren habe die NVA im Irak fachliche Unterstützung beim Aufbau eines Übungsplatzes zum Training des Schutzes der Truppen vor Massenvernichtungswaffen geleistet.

      Weiter erklärte Rainer Eppelmann, dass die Lieferung von 34 Brückenlegepanzern für den Irak bereits im September vergangenen Jahres vereinbart worden war. Er habe am Mittwoch vergangener Woche die Alliierten gebeten, das irakische Schiff mit den Panzern an Bord aufzuhalten, damit es seinen Zielort nicht erreichen kann.
      (Berliner Zeitung, Mo. 20.08.1990)

      DDR-Abrüstungs- und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann wird bereits ab Montag einen zeitweiligen Ausbildungsstopp für PLO-Soldaten in der DDR verfügen. Eine Grundsatzentscheidung müsse jedoch die Regierung treffen, sagte er in Berlin. Zuvor hatte Eppelmann informiert, dass die NVA gegenwärtig ausländische Militärangehörige aus elf Staaten ausbildet. Unter ihnen befinden sich 31 PLO-Mitglieder, 29 Libyer und 130 Jemeniten.
      (Tribüne, Mo. 20.08.1990)

  • PDS in der BRD

    • Hamburg (ND-Krauß). Mit der Gründung einer bundesweiten Arbeitsgemeinschaft von PDS-Initiativen und -Freundeskreisen aus der BRD endete am Sonntag eine Beratung von Initiativen aus dem Bundesgebiet. Neben einer Reihe von sympathisierenden Einzelpersonen waren als Gäste Vertreter der PDS-Landesverbände Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sowie Klaus Höpcke vom Präsidium der PDS, Heidi Hegen von der "Linken Liste/PDS". Vertreter der DKP und andere anwesend.

      Übereinstimmend unterstrichen die Teilnehmerinnen, dass die Arbeitsgemeinschaft nicht in Konkurrenz zur "Linken Liste/PDS" stehe. Vielmehr wolle sie die Arbeit der PDS-Initiativen bundesweit koordinieren und die "Linke Liste/PDS" unterstützen. Ferner will man die Gründung weiterer Initiativen fördern. Kontakte zur DDR-PDS ausbauen und organisatorische Grundlagen schaffen, die die dynamische Ausdehnung der PDS in das Bundesgebiet nach der deutsch-deutschen Vereinigung ermöglichen. Statuarische Hemmnisse für eine Aufnahme von BRD-Bürgern in die PDS - so die Bindung der Mitgliedschaft an den DDR-Staatsbürgerstatus - verlören nach der Vereinigung ihren Sinn, äußerte Klaus Höpcke. Auch PDS-Freundeskreisen steht die Mitarbeit offen.

      Auf dem nächsten Treffen der Arbeitsgemeinschaft soll ein SprecherInnenrat gebildet werden. Kontaktanschrift: (...)
      (Neues Deutschland, Di. 21.08.1990)

  • FDP Paragraph 218 nach DDR geltender Fristenregelung reformieren

    • Bonn (ADN). Der in der Bundesrepublik gültige Paragraph 218, der Schwangerschaftsunterbrechung unter Strafe stellt, soll nach Auffassung der FDP im Sinne der in der DDR geltenden Fristenregelung mit vorheriger Beratung reformiert werden. Dafür setzte sich das FDP-Präsidium am Montag in Bonn auf seiner ersten Sitzung nach dem Vereinigungsparteitag der Liberalen in Hannover ein. Das FDP-Gremium sprach sich entschieden gegen "jede Form der Schnüffelpraxis bei neuen Strafrechtsnormen" aus.
      (Neues Deutschland, Di. 21.08.1990)

Berlin (ADN). Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen in West-Berlin hat den ersten bundesdeutschen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherern die Zulassung für den Geschäftsbetrieb in der DDR erteilt und zugleich den Tarif genehmigt. Damit ist es Autofahrern in der DDR nunmehr möglich, sich beim Abschluss einer Kfz-Haftpflichtversicherung unter zahlreichen Anbietern mit unterschiedlichen Prämien zu entscheiden. Der Tarif gilt allerdings nur bis Ende 1990.
(Neues Deutschland, Mo. 20.08.1990)

Hannover/Magdeburg (ADN). Mit dem Ziel einer Neustrukturierung der Zuckerindustrie im Bereich Sachsen-Anhalt ist jetzt die Zuckerverbund Magdeburg GmbH mit Sitz in Magdeburg gegründet worden. Dem neuen Zusammenschluss gehören die Zuckerverbund Nord AG, Braunschweig, sowie die DDR-Zuckerfabriken Börde GmbH, Haldensleben GmbH, F. C. Achard Genthin GmbH, Nauen GmbH und Salzwedel GmbH an. ZVN-Vorstandssprecher Hermann Kleber teilte am Freitag in Hannover mit, für die Rübenanbauer seien bereits Anteile reserviert. Sie sollen an diesem Gemeinschaftsunternehmen direkt beteiligt werden.
(Neues Deutschland, Mo. 20.08.1990)

In einem Interview in der Zeitung "Welt am Sonntag" sagt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, wenn man für die Einheit ist, muss man auch "Mittel aufbringen, um die deutsche Vereinigung möglich zu machen". "Die deutsche Einheit gibt es nicht zum Nulltarif. Ich halte es für völlig falsch, den Eindruck zu erwecken, als könne man die Einheit aus der Westentasche finanzieren."

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