Do. 20. September 1990

Link zum Protokoll der 36. Sitzung der Volkskammer

Link zum Verfassungsgesetz zum Einigungsvertrag

Link zur Erklärung der Besetzer des Stasiarchivs

Link zum Interview mit Bärbel Bohley zur Besetzung des Zentralarchivs der ehemaligen Stasizentrale

• • Schiffbauer und Reparaturwerker demonstrieren vor der Volkskammer

    • Die Volkskammer sah schon viele Demos. Bauern waren mit ihren Kühen da, Müllfahrer mit ihren Autos. Heute sind 400 Schiffbauer und Reparaturwerker aus dem Norden angereist. Zehn Busse verließen gegen halb sechs morgens voll besetzt das Werftgelände der Peenewerft in Wolgast. Ihr Ziel: Palast der Republik. Aber der ist ja jetzt geschlossen. Wo die Parlamentarier nun tagen werden, ist noch nicht raus. Sicher durfte allerdings sein, dass die Schiffbauer ihre Forderungen trotzdem an die richtige Adresse bringen.

      Was wollen sie erreichen? Die Peenewerft, bislang ausschließlich Produzent für die NVA, steht vor dem totalen Aus. Es muss gelingen, einige Forderungen, die sich aus der Konversionsproblematik ergeben, in dem Einigungsvertrag festzuschreiben. Zu diesem Zweck sind auch Arbeitnehmer des Reparaturwerkes Neubrandenburg angereist, die gemeinsam mit den Wolgastern ihre Resolution an bringen werden.
      (Tribüne, Do. 20.09.1990)

  • Blaue Briefe für ausländische Arbeiter

    • Die deutsche Vereinigung bedeutet das Aus für die knapp 70 000 ausländischen Arbeiter in der DDR. Wie das Büro der Ausländerbeauftragten am Donnerstag mitteilte, sollen die 54 000 derzeit in der DDR beschäftigten Vietnamesen, die 13 900 Moambiquaner und die 950 Angolaner nach dem 3. Oktober vorzeitig in ihre Heimatländer zurückkehren. Die meisten von ihnen hätten ihre Kündigung bereits in der Tasche.
      (Neue Zeit, Sa. 22.09.1990)

  • Die Braunkohleindustrie in der DDR kämpft ums Überleben

    • Die Braunkohleindustrie in der DDR kämpft ums Überleben. Doch Harry Patzig, Präsident des DDR-Branchenverbandes Bergbau und Geologie, ist zuversichtlich und nennt die Bedingungen für eine Zukunft: "Halbierung der Förderung und des Personals, mehr Einsatzmöglichkeiten im industriellen und kommunalen Wärmemarkt und eine staatliche Finanzspritze von 50 Milliarden DM." Das sehen auch die Berater der Kölner Rheinbraun so, die die Lausitzer und Mitteldeutsche Braunkohlen GmbH (LMB) mit Rat und Tat unterstützen. "Auch in der DDR hat die Braunkohle sicherlich eine Zukunftschance", erklärt Dieter Schwirten, Sprecher des Beratergremiums.

      "Wir bemühen uns um eine neue Orientierung", sagt Patzig. Ökonomische und ökologische Altlasten sind das große Problem der DDR-Braunkohle. Kredite müssen abgezahlt werden, Milliarden sind für umweltfreundliche Technologie und Sanierung im Braunkohlerevier nötig. Das könne kein Betrieb selbst tragen, der Staat müsse helfen. Dann könne auch die Rekultivierung angegangen werden. Denn von 85 000 Hektar umgewühlter Erde sind erst 50 Prozent wieder im natürlichen Zustand.

      Der Bergbau sei "durch die Landschaft gerast", so Patzig. Rund 300 Millionen Tonnen Braunkohle wurden 1989 zur DDR-Energieversorgung aus der Erde gegraben. Die Qualität könne sich zwar mit der Rheinkohle messen, aber nur die Hälfte der Fördermenge sei effektiv, meint Sehwirten.

      Doch ein großer Teil der 39 DDR-Tagebau-Anlagen muss eingestellt werden. Von 150 000 Kumpeln und Verwaltungsangestellten können nur noch die Hälfte ihre Brötchen mit der Kohle verdienen. Über den Vorruhestand werden bis Jahresende bereits fast 7 000 "mit eigenem Einverständnis" ausscheiden, so Patzig. Kurzarbeit und Umschulung soll über Jahre den aufgeblähten Beschäftigungsapparat "sozialverträglich" reduzieren.
      (Neue Zeit, Fr. 21.09.1990)

  • Arbeiter und Angestellte des Palastes der Republik demonstrieren vor dem Haus der Parlamentarier

    • "Gestern habt ihr noch bei uns gegessen, heute habt ihr uns vergessen!", skandierten gestern Vormittag wütend rund 1 700 Arbeiter und Angestellte des Palastes der Republik vor dem Haus der Parlamentarier. Am Mittwoch hatte der Ministerrat beschlossen, mit sofortiger Wirkung den Monumentalbau zu schließen, weil von verarbeiteten Asbestplatten Gefahren für Gesundheit der Besucher und Angestellten ausgehen. Jürgen Hagen, stellvertretender Direktor des Palastes, dazu: "Eine Westberliner Firma, die seit August Untersuchungen im Haus durchführte, um ein Gutachten zu erstellen, konnte feststellen, dass die Messwerte noch unter den in der Bundesrepublik gültigen liegen." Einzig eine Unbedenklichkeitsbescheinigung darüber, dass Asbestteile sich nicht von der Decke lösen - wie auch schon geschehen -‚ konnte nicht gegeben werden. Deshalb also die Schließung des Hauses.

      Was die Mitarbeiter dagegen aufbringt, ist die Ungewissheit ihrer Zukunft und die Arroganz, mit der die Volksvertreter sie ignorieren. 2,3 Millionen DM schuldete die Volkskammer allein im Juli dem Hause, im August seien die Kosten eher noch gestiegen. Und: Bislang konnten Volkskammerabgeordnete für den halben Preis essen und trinken.

      Jetzt fühlen sich die Mitarbeiter des Palastes allein gelassen. Schon seit zehn Jahren forderten sie Untersuchungen, aber die Sicherheitsinspektion des Hauses wiegelte stets ab.

      Über die Forderungen, den Palast einfach abzureißen, ohne ihn vorher zu sanieren, kann Jürgen Hagen nur lachen. "Wenn ich das Haus jetzt dem Erdboden gleich mache, dann gerät doch das Asbest in die Umwelt. Also, um eine Sanierung kommen wir nicht herum." Dazu wird es in Kürze eine Ausschreibung geben, zu der bereits Angebote vorlägen. Hagen vermutet hinter dem Gerede um den Abriss nun eher auch einen politischen Hintergrund. "Heute schon über Kosten zu reden. Zahlen zu nennen, ist doch aberwitzig. Das kann man doch überhaupt noch nicht beziffern." Offensichtlich bestünden hier politische Vorbehalte. Eine Entscheidung über eine Beschäftigungsgesellschaft, mit der die Zukunft der Mitarbeiter geregelt werden kann, steht indes noch aus.
      (Junge Welt, Fr. 21.09.1990)

  • Gefangene des Strafvollzugs Brandenburg besetzten Dachboden

    • Die Spitzenkandidaten für den Brandenburger Landtag Manfred Stolpe (SPD) und Innenminister Peter-Michael Diestel (CDU) sprachen am Donnerstag mit den vier Gefangenen des Strafvollzugs Brandenburg, die seit Mittwochabend den Dachboden eines der Gefängnisgebäude besetzt halten. Die Häftlinge drohen, vom Dach zu springen, wenn ihre Forderungen nicht geprüft würden. Auch nach dem Gespräch wollten die vier auf dem Boden verharren, bis sich ihre Situation real verbessert.

      Stolpe, um dessen Anwesenheit die Häftlinge gebeten hatten, betonte ausdrücklich, dass es sich nicht um Abenteurer handle. Er sei überzeugt, dass oft unverhältnismäßig hoch gestraft wurde und Verfahren teils mangelhaft durchgeführt wurden.

      Diestel verwies darauf, keine Amnestie erlassen zu können, versprach aber, auf eine gesamtdeutsche Entscheidung hinwirken zu wollen.

      Zur Zeit sitzen in Brandenburg über 1 000 Häftlinge zumeist langjährige oder lebenslange Strafen ab. Nach Angaben der Polizei sind drei der Revoltierenden wegen Mordes beziehungsweise schwerer Brandstiftung zu Haftstrafen bis zum Jahr 2002 verurteilt.
      (Neue Zeit, Fr. 21.09.1990)

      Berlin. 16 Häftlinge halten seit Donnerstagabend das Dach eines Gebäudes der Rummelsburger Strafvollzugseinrichtung im Ostberliner Bezirk Lichtenberg besetzt. Sie fordern eine Generalamnestie und die Nichtverlegung nach Westberlin.

      Bad Langensalza. Bessere Lebensbedingungen und eine allgemeine Amnestie forderten zwölf Gefangene mit einer mehrstündigen Besetzung des Daches der Strafvollzugseinrichtung Gräfentonna.

      Brandenburg. Die vier protestierenden Häftlinge, die einen Dachboden in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg besetzt halten, verharren nach wie vor im Gebälk. Ihr Ultimatum, nach 24 Stunden in die Tiefe springen zu wollen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, haben sie allerdings ausgesetzt. (Deutsches Landblatt, Sa. 22.09.1990)

  • Stasi-Akten Demonstration vor dem Bundeshaus in Bonn und in der Volkskammer

    • Bonn/Berlin (NZ/dpa). Erstmals hat eine in der DDR-Volkskammer vertretene politische Gruppierung am Donnerstag vor dem Bundeshaus in Bonn demonstriert. Acht Mitglieder des Neuen Forums forderten eine kurzfristige Änderung des Einigungsvertrages, in den sie das Recht für jeden Bürger zur Einsicht in die eigenen Stasi-Akten ohne alle Bedingungen in den Vertrag aufgenommen haben wollen. Die Demonstranten verteilten während der Mittagspause Flugblätter an die Abgeordneten.

      Besetzer des Zentralarchivs der Stasi-Zentrale in Berlin verursachten eine Sitzungsunterbrechung der Volkskammer. Sie entrollten ein Spruchband mit der Aufschrift "Hungerstreik" und versuchten, das Mikrofon zu ergreifen. Daraufhin unterbrach Parlamentsvizepräsident Höppner die Tagung. In der folgenden Pause sprach sich Reinhard Schult (Neues Forum) gegen eine Abstimmung über den Einigungsvertrag durch Parlamentarier aus, die für die Stasi gearbeitet haben Er prangerte an, dass das Rehabilitierungs- und das Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten vom 24. August keinen Eingang in das Vertragswerk fanden.

      Überraschend besuchten am Donnerstagvormittag Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl und Vizepräsident Ullmann die Besetzer der Stasi-Zentrale und appellierten an sie, den Hungerstreik zu beenden. 50 000 haben sich bisher mit ihrer Unterschrift den Forderungen der Bürgerrechtler angeschlossen.
      (Neue Zeit, Fr. 21.09.1990)

      Berlin (ND). Gegen Mittag, kurz vor der Abstimmung zum Einigungsvertrag, gab es Tumult im Sitzungssaal der Volkskammer Im ehemaligen ZK-Gebäude. Reinhard Schult, Ingrid Köppe und weitere Besetzer der einstigen MfS-Zentrale hatten sich Zugang verschafft und waren bis zum Rednerpodium vorgedrungen. Schult begann zu reden, doch das Mikrofon wurde ausgeschaltet. Die Vertreter der Bürgerbewegungen entrollten ein Transparent: 9 Tage Hungerstreik. Empörung auf der Seite der konservativen Abgeordneten. Dr. Schreiber von der CDU: Wir wollten die wichtigste Sache beschließen, dann stört uns dieser linke Pöbel! Hubertus Nowack, ehemals DSU, fügte hinzu: Am 3. Oktober ist es damit vorbei. In einem deutschen Parlament haben nur die Abgeordneten etwas zu sagen und nicht die Straße.

      Nach längerem Hin und Her und häufigen Rufen nach der Polizei räumte Volkskammervizepräsident Höppner doch einige Minuten Redezeit ein - und zwar während der Pause. Das Rederecht war übrigens bereits zu Beginn der Tagung von einer Abgeordneten vom Bündnis 90 für die Besetzer beantragt worden, stieß jedoch auf Ablehnung im Präsidium. Schult kritisierte die mit dem Einigungsvertrag ausgehandelte Regelung zu den Stasi-Akten. Diese Akten würden auf diese Weise zu Gift, woran sich dieses Land die nächsten Jahre vergiften werde.
      (Neues Deutschland, Fr.21.09.1990)

  • Rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben gefordert

    • Die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben gegenüber ihren heterosexuellen Mitbürgern fordert der Berliner-Schwulen-Verband (BSV). Die Abgeordneten der Volkskammer werden aufgefordert, auf ihrer heutigen Sitzung für den in zweiter Lesung vorliegenden Gesetzentwurf der PDS-Fraktion zu stimmen. Der Verband begrüßt, dass mit dem Antrag die Einrichtung eines eheähnlichen Rechtsinstituts - vollkommen unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung der Partner - verbunden sein soll.
      (Berliner Zeitung, Do. 20.09.1990)

  • Mahnwache vor dem Roten Rathaus in Berlin

    • Bisher habe der Ostberliner Magistrat noch nicht auf ihre Mahnwache vor dem Roten Rathaus reagiert, informierten Ostberliner Hausbesetzer gestern bei einer improvisierten Pressekonferenz. Seit Sonnabend sitzen die jungen Leute vor dem Hauptportal des Gebäudes an einem "Runden Tisch", der ihre Gesprächsbereitschaft symbolisieren soll. Sie fordern die Legalisierung der Besetzungen, Geld für die Winterfestmachung der Gebäude und möglichst langfristige Nutzungsverträge. Hauptstreitpunkt ist dabei die vom Magistrat beschlossene "Berliner Linie", die nach dem 24. Juli besetzten Häusern Räumung androht. Es sei jedoch schier unerträglich, dass sich der Magistrat vor Entscheidungen drücke. So habe er den Vorschlag, einen gemeinsamen Verhandlungstisch zwischen Besetzern, Wohnungsbaugesellschaften mbH, den Räten der Bezirke und den Hauseigentümer einzurichten, mit der Begründung abgewiesen, nicht mehr zuständig zu sein.
      (Berliner Zeitung, Fr. 21.09.1990)

  • Protest von Umweltverbänden

    • Führende deutsche Umweltverbände haben dagegen protestiert, dass in den 14 neuen DDR-Naturschutzgebieten nach der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag Straßenbaumaßnahmen im größeren Umfang möglich sein sollen. Sie lasteten diese Einschränkung des Naturschutzes vor allem Verkehrsminister Friedrich Zimmermann (CSU) an, auf dessen Intervention hin in der Zusatzvereinbarung eine entsprechende Bestimmung aufgenommen worden sei. Nach Auffassung des Deutschen Naturschutzringes (DNR) verstößt sie voll gegen das Bundesnaturschutzgesetz.
      (Berliner Zeitung, Fr. 21.09.1990)

  • Bürger aus Bulgarien und Rumänien brauchen künftig ein Visa

    • Bürger aus Bulgarien und Rumänien dürfen künftig nur noch mit einem gültigen Visa in die DDR einreisen. Wie Verantwortliche des Grenzkommandos am Sonnabend informierten, treten entsprechende Maßnahmen am 20. September in Kraft.

      Begründet wurde dies mit der von den alliierten Kontrollmächten aufgehobenen Bestimmung, die bislang allen Bürgern aus Osteuropa einen visafreien Aufenthalt in Westberlin bis zu einer Dauer von 31 Tagen garantierte.
      (Junge Welt, Mo. 17.09.1990)

Die Geschäftsstelle der neugeschaffenen Clearing-Stelle der Bundesregierung und der Länder im Bundesinnenministerium hat die Arbeit aufgenommen. Das teilte Regierungssprecher Hans Klein in Bonn mit. Der neuen Institution kommt laut Einigungsvertrag die Aufgabe zu, den Aufbau der Verwaltung in den fünf neuen Ländern auf dem Gebiet der heutigen DDR zu organisieren und zu koordinieren.
(Neue Zeit, Fr. 21.09.1990)

ADN/JW. "Für die rund 30 000 angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer in der DDR bleiben auch noch dem 3. Oktober die veränderten Regierungsabkommen mit den jeweiligen Heimatländern gültig.2 Mit dieser Erklärung dementierte gestern der Sprecher der Ausländerbeauftragten der DDR-Regierung eine Meldung der Frankfurter Rundschau über die angebliche Nichtübernahme durch die Bundesregierung.

Fest stehe aber auch, dass die meisten der noch im Juli in der DDR arbeitenden betroffenen Ausländer ihre Kündigung bereits in der Tasche haben und vorzeitig noch Hause fliegen. Sie erhalten 3 000 DM Abfindung, ein Überbrückungsgeld und ein Flugticket.
(Junge Welt, Fr. 21.09.1990)

Die Volkskammer und der Bundestag stimmt dem Einigungsvertrag zu. Volkskammer 299 Ja-, 80 Nein-Stimmen bei einer Enthaltung. Bundestag 440 Ja-, 47 Nein-Stimmen bei 3 Enthaltungen.

Die Besetzer des Stasiarchivs erklären, den Hungerstreik bis zum 28.09. fortzusetzen.

Erster Tag des zweitägigen Symposium "Umweltforschung in der DDR" in der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Rahmenprogramm werden Forschungsarbeiten vorgestellt.

In Berlin Reinickendorf findet das letzte monatliche "Kommandatengespräch" zwischen dem Berliner Senat und den drei westlichen Stadtkommandanten statt.

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