Das ist in Leipzig seit drei Wochen Wirklichkeit: Die Demonstration ist ein Stück der politischen Kultur. Am Montagabend gehört der kilometerlange Zug schon zum gewohnten Bild der Messestadt. Gegen 17 Uhr schließen die meisten Geschäfte in der Innenstadt, langsam kommt der Straßenbahnverkehr zum Erliegen. Vor allem um die Nikolaikirche, aber auch am Karl-Marx-Platz und um weitere sechs Kirchen sammeln sich schnell Tausende Menschen, viele auch aus der näheren und weiteren Umgebung mit Zug oder Auto angereist.
Mehr als 200 000 - so die offizielle Schätzung - setzten sich dann vorgestern in Marsch über den Ring, einmal rund ums Zentrum. Junge und Alte, auch Kinder. Hunderte Transparente werden mitgetragen, hängen über Brückengeländer und zwischen Fahnenmasten. Nicht alles hält dabei Maßstäben der Sachlichkeit stand, aber es zeigen sich die Hauptprobleme, für deren Lösung die Leipziger auf die Straße gehen. "Reformer an die Macht" wird gefordert und "Im Namen unsrer Kinder Glück - Margot Honecker tritt zurück!" Nicht die einzige Forderung nach personellen Konsequenzen. Dass der Schwarze Kanal noch am selben Abend seine letzten Sendeminuten haben würde, hatte sich im langen Zug noch nicht herumgesprochen; diese Art des Journalismus rief den besonderen Unmut hervor.
Immer wieder fordern Sprechchöre die Zulassung des "Neuen Forums", deren Leipziger Kontaktadresse auch im Sender Leipzig verlesen wurde. Ein neues Wahlgesetz wird verlangt, das eine Wahl zwischen verschiedenen Parteien und Kandidaten vorsieht. "Visafrei bis Hawaii", heißt es auf anderen Spruchbändern und "Wir wollen endlich Taten sehen!" Viele sind ungeduldig, befürchten, dass sich nach vielem Reden doch wieder der alte Trott breitmacht.
Halle. Losungen wie "Umweltschutz statt Umweltschmutz" und "Lasst Taten folgen, wir sind dabei" führten die rund 50 000 Demonstranten mit, die durch die Innenstadt von Halle zogen. Die Demonstration, die an der Marktkirche ihren Anfang nahm, führte durch die Fußgängerzone zum Gebäude der SED-Bezirksleitung. In Sprechchören verlangten die Bürger konkrete Antworten vom 1. Bezirkssekretär zu mehr Mitsprache in Angelegenheiten der Stadt und des Staates, zur Presse- und Meinungsfreiheit, zu größerer Rechtsstaatlichkeit sowie zu Reformen auch im Bildungswesen. Während der gesamten Zeit sorgten Volkspolizisten für die Umleitung des Verkehrs.
Ab sofort werden die Bürger von Halle donnerstags um 18 Uhr zu Stadthausgesprächen eingeladen. Der Rat reagiert damit auf Forderungen der Einwohner. Zu einem Meinungsaustausch hatten sich seitens der SED Hans-Joachim Böhme sowie weitere Funktionäre u.a. mit Vertretern der Halleschen Initiativgruppe "Neues Forum" getroffen.
Schwerin. Nach einem Friedensgebet in drei Schweriner Kirchen formierte sich ein Demonstrationszug durch die Schweriner Innenstadt. Rund 40 000 Einwohner zogen zunächst zum Alten Garten, dem traditionellen Kundgebungsplatz der Schweriner. Ein Sprecher rief zur friedlichen und gewaltfreien Demonstration auf und plädierte unter anderem für Presse- und Informationsfreiheit, Reisefreiheit und die Durchsetzung des Leistungsprinzips auf allen Ebenen. Es schloss sich ein Marsch durch die Innenstadt an. Auf Transparenten verlangten die Demonstranten unter anderem die Abschaffung von Privilegien und die Gleichberechtigung aller Parteien.
Karl-Marx-Stadt. Mehr als 20 000 Menschen nahmen an einer Demonstration im Zentrum von Karl-Marx-Stadt teil. Auf Transparenten wurde u. a. "Demokratie jetzt" und ziviler Wehrersatzdienst für das Gesundheitswesen gefordert. Im Anschluss an die fast einstündige Demonstration versammelten sich die Teilnehmer vor dem Rathaus und brachten ihre Forderungen und Überlegungen vor. Oberbürgermeister Dr. Eberhard Langer teilte unter anderem mit, dass ein Forderungskatalog von Mitarbeitern des Bezirkskrankenhauses abgearbeitet wird und Mitarbeiter des Rates der Stadt zeitweilig in der Volkswirtschaft tätig sein werden.
Pößneck. Rund 800 Bürger nahmen an einem Friedensgebet in der Pößnecker Stadtkirche teil. Danach bewegte sich ein Zug von rund 5 000 Demonstranten im Schweigemarsch durch die Innenstadt zum Rathaus. Auf Transparenten forderten sie unter anderem "Freie Wahlen - freie Bürger", "Sozialfürsorge ist notwendig" und "Zivildienst ist Menschenrecht - Gesundheitsreform".
Magdeburg. Nach einem Gebet im Magdeburger Dom für gesellschaftliche Erneuerung in der DDR formierte sich ein Demonstrationszug mit 15 000 Teilnehmern. Die Frauen und Männer, die auch aus anderen Orten in die Bezirksstadt gekommen waren, forderten auf Transparenten unter anderem Veröffentlichung aller Umweltdaten, die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes und ein neues Wahlgesetz. Ein Plakat, das dem Zug vorangetragen wurde, zeigte das Symbol einer Friedenstaube. Der Marsch durch die Innenstadt verlief friedlich.
Dresden. Mehrere tausend Bürger Dresdens und umliegender Kreise kamen vor der Goldenen Pforte des Rathauses zusammen. Sie traten unter anderem für Durchsetzung von Demokratie, zivilen Wehrersatzdienst und Reisefreiheit ein. Später begaben sie sich auf einen friedlichen Demonstrationszug durch die Innenstadt, woran zeitweise rund 20 000 Menschen teilnahmen.
Hoyerswerda. Nach einem Demonstrationszug durch Straßen der Kreisstadt versammelten sich etwa 10 000 Menschen im neuen Zentrum von Hoyerswerda. Partei- und Staatsfunktionäre, Abgeordnete und Vertreter aus dem Gaskombinat Schwarze Pumpe standen den Diskutierenden Rede und Antwort zu angestauten Problemen in gesamtgesellschaftlichen wie in kommunalen Bereichen.
Suhl. Viereinhalbtausend Einwohner von Suhl nahmen am Montagabend in der Stadthalle die Gelegenheit wahr, mit Kommunalpolitikern ins Gespräch zu kommen, jenen Dialog fortzuführen, der vor Wochenfrist an gleicher Stelle aufgenommen wurde. Nach Vorstellung der Gesprächspartner wurde die Frage gestellt, weshalb leitende Funktionäre der SED-Bezirksleitung, darunter der 1. Sekretär, Hans Albrecht, dem Dialog offensichtlich aus dem Wege gehen. Der Sekretär der SED-Bezirksleitung Gerhard Koszycki antwortete darauf, dass sich das Sekretariat damit beschäftigt habe und in absehbarer Zeit auch personelle Veränderungen vorgenommen werden.
Der Leiter der Bezirksmusikschule, Peter Backhaus, äußerte den Standpunkt, man müsse jenen, die die Wende wirklich wollen, auch die Chance geben, es durch Tatsachen zu beweisen. "Wer die Wende nicht will, muss von seiner Verantwortung befreit werden, sagte er unter Beifall. Da die Kapazität der Stadthalle nicht ausreichte, um alle interessierten Bürger aufzunehmen, wurden die 2 000 vor dem Gebäude wartenden Suhler über Lautsprecher und Monitore über den Verlauf der Diskussion informiert. Auf Vorschlag von Oberbürgermeister Joachim Kunze soll dieser Dialog künftig mehreren themenbezogenen Gruppen fortgesetzt werden.
Cottbus. Nach mehr als eineinhalbstündiger Debatte kam aus den Reihen der am Montagabend im Zentrum von Cottbus Versammelten der Vorschlag, auf vernünftiger Basis an gleicher Stelle den Dialog über brennende Fragen fortzuführen. Mehr als 20 000 Bürger hatten sich zuvor zu einem Demonstrationszug formiert und auf den Vorplatz der Stadthalle begeben. Nachdem die Mehrzahl der Teilnehmer des Meetings dem Vorschlag zustimmte, erklärte Werner Walde, Kandidat des Politbüros des Zentralkomitees und 1. Sekretär der Bezirksleitung Cottbus der SED: "Ich bin bereit zum weiteren Dialog und werde hier sein".
Teils von ehrlicher Sorge motiviert, teils aber auch hitzig, unsachlich und von Pfiffen unterbrochen, hatten Bürger ihre Fragen und Meinungen vorgetragen. Es ist wahr, dass in der DDR viel geschaffen worden ist. Aber es ist auch wahr, dass Erfolge überbewertet und Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung nicht rechtzeitig erkannt worden sind, sagte Werner Walde. Dafür trage er die Mitverantwortung. Zustimmung unter der Mehrheit der Teilnehmer des Meetings fanden Äußerungen, dass es jetzt darauf ankomme, den Schlüssel zur Lösung der anstehenden Aufgaben zu finden.
Nach einem Friedensgebet in der Martinskirche in Bernburg (Saale) begeben sich die Demonstranten zur SED-Kreisleitung in der Friedensallee. Zu einem Gespräch mit dem SED-Kreissekretär kommt es auf dem Marx-Engels-Platz.
Demonstriert wird auch in Berlin, Daubitz, Geismar, Gerbershausen, Heiligenstadt, Klingenthal, Osterburg, Probstzella, Reichenbach, Schleusingen, Schwarzenberg, Staßfurt, Wernigerode, Wittichenau und Zwickau.
Eine Demonstration führt von Tröbnitz nach Geisenhain.
Im Kreiskulturhaus in Gotha findet eine Bürgerversammlung statt.
Zweite Dialogveranstaltung in Lübben. Es kommt zu zahlreichen Unmutsäußerungen.
Im überfüllten Saal des Speisehauses des VEB Strömungsmaschinen Pirna findet eine Dialogveranstaltung statt.
Die SED-Kreisleitung und die Nationale Front laden zu einer Dialogveranstaltung in die Kultur- und Sporthalle des Stahlwerkes Brandenburg/Havel ein.
Zu einer Dialogveranstaltung in das Kulturhaus in Kyritz hat der Rat des Kreises eingeladen.
Zweites Stadthallengespräch in Suhl. Wegen des großen Andrangs finden nicht alle einen Platz in der Halle. Über Lautsprecher wird die Veranstaltung für die vor der Halle versammelten übertragen.