Die Erfurter Bürgerinnenbewegung "Frauen für Veränderung" verbreitet ein Arbeitsmaterial "Überlegungen zu gesellschaftlichen Veränderungen im Hinblick auf Gerechtigkeit, Frieden, Ökologie und Gleichberechtigung". Darin heißt es u. a.:
"Als Bürgerinnen dieses Landes erklären wir Frauen uns solidarisch mit allen Menschen, Initiativen und Gruppen, die an der demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft mitarbeiten, um den Sozialismus lebbarer zu machen. (...)
Wir beteiligen uns mit unseren Vorstellungen für dringend notwendige gesellschaftliche Veränderungen an der öffentlichen Diskussion:
Demokratische Grundrechte
Die Respektierung der Mündigkeit aller ist Voraussetzung, um verantwortlich an den Veränderungen in unserem Land teilzunehmen. Dazu ist erforderlich, die individuelle Entfaltung in allen Lebensbereichen zu gewährleisten, damit eine freie und unabhängige Willensbildung und Meinungsäußerung möglich ist.
Dabei ist für uns Frauen entscheidend
- dass die Gleichberechtigung in vollem Umfang gesetzlich verankert wird und Bedingungen zu schaffen sind, diese auch de facto wahrzunehmen,
- dass die individuelle Entfaltung von Frauen in allen Lebensbereichen gewährleistet wird, ohne sie an den in der patriarchalen Gesellschaft entwickelten Rollenklischees zu messen,
- dass die eigenständigen Wertvorstellungen der Frauen zur Kenntnis genommen und als gesellschaftliche Größe anerkannt werden,
- dass Frauen ihre eigene Identität suchen und wiedergewinnen,
- dass Frauen sich maßgeblich an der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft beteiligen,
- dass Frauen neue Konzepte für ein gesellschaftliches Miteinander entwickeln.
Die uneingeschränkte Verwirklichung der Gleichberechtigung bedeutet eine Verminderung der Spannungsfelder und mehr Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft, wodurch diese auch nach außen friedfähiger wird.
Rechtsreform
Die Gesetzlichkeiten müssen die verfassungsmäßig verankerten demokratischen Grundrechte schützen (Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit) und eine vom Staat unabhängige Rechtsprechung gewährleisten (Trennung von Legislative und Exekutive). (...)
Uns ist es besonders wichtig,
- dass jede Form von Gewalt gegen Frauen gesetzlich einklagbar ist,
- dass sozial Schwache nicht kriminalisiert werden,
- dass Familien- und Arbeitsrecht im Interesse der Gleichberechtigung überprüft und verändert wird (z. B. Erziehungsgehalt, Chancengleichheit, Berufswanderung).
Perspektivisch sind anstelle des Strafvollzuges institutionalisierte Möglichkeiten der Psychotherapie im Hinblick auf Integration und Rehabilitation anzustreben.
Erziehungs- und Bildungssystem
Ziel ist die Befähigung zu offener kritischer Auseinandersetzung und kreativ verantwortlicher Mitgestaltung in der Natur und Gesellschaft.
Voraussetzungen dafür sind:
- Achtung und Akzeptanz der Persönlichkeit, insbesondere der des Kindes
- die gleichberechtigte Entfaltung individueller Talente und Fähigkeiten
- das Üben von Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie gewaltfreier Konfliktlösung,
um ein vorurteilfreies, tolerantes und solidarisches Verhalten zu erlernen.
Zur Verwirklichung dessen bedarf es einer individuell ganzheitlichen anstelle leistungsorientiert polytechnischer Erziehung und Bildung, die frei ist von autoritären Strukturen.
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen dürfen kein Instrument ideologischer Ausrichtung und Beeinflussung sein.
Die Vielfalt von Erziehungs- und Bildungsmodellen ist Voraussetzung für lebendige Zukunftsorientierung mit neuen Inhalten und Werten (Sexualerziehung, Umweltkunde, Illusionskörperschaft in die Gegenwart setzen ...).
Die vermittelten Inhalte sowie die Sprache, als Ausdruck des Bewusstseins, müssen Möglichkeiten der Identifikation für Frauen und Männer enthalten und ihre Gleichberechtigung widerspiegeln, um die traditionell entstandenen Rollenbilder und die damit verbundenen Diskriminierungen der Frau zu überwinden.
Ökologie/Ökonomie
Ziel ist es, einen gesellschaftlichen Wertwandel zu erreichen, der zu einem ausgewogenen Verhältnis ökonomischer Interessen (Verbesserung des materiellen Lebensstandards) und ökologischer Notwendigkeiten (Wiederherstellung und Bewahrung unseres natürlichen Lebensraumes) hinführt. Hierbei muss die Ökologie das Primat haben. Dazu ist ein schrittweiser ökologischer Umbau unserer wachstumsorientierten Industriegesellschaft notwendig durch z. B.
- öffentliche Information, Diskussion und Kontrolle der Umweltbelastungen mit Schwerpunkt der Schadlosigkeit der Produktion,
- sofortiger Stopp von Müllimporten,
- keine Nutzung von Atomenergie,
- sparsamer Umgang und Nutzung alternativer erneuerbarer Energien,
- Gewährleistung durch Gesetzgebung, dass die Verursacher durch die Beseitigung der durch ihre Produktion entstandenen Umweltbelastungen voll verantwortlich sind,
- Veränderung der Konsumgewohnheiten,
- Entmilitarisierung und Reduzierung der Bürokratie auf ein notwendiges Mindestmaß.
Gesundheits- und Sozialwesen
Aufgabe ist die Erhaltung der psychischen und physischen Gesundheit aller.
Eine wesentliche Bedeutung dabei besitzt die Prophylaxe, für deren Durchführung soziale und politische Maßnahmen erforderlich sind (höhere Mindestlöhne, höhere Renten, mehr Grundurlaub, flexible Arbeitszeit, Teilzeitbeschäftigung, alternative Wohnmodelle, Arbeitslosenunterstützung ...).
Die Bewertung von Krankheit und Gesundheit muss unter Berücksichtigung sozialpsychologischer Kriterien ganzheitlich erfolgen, weder die Leistungsfähigkeit noch traditionelles Rollenverhalten kann als Norm dafür ausschlaggebend sein.
Außerdem ist es wichtig, ein breit gefächertes System von Rehabilitations- und Integrationsmodellen aufzubauen, in welchen Selbsthilfegruppen eine besondere Bedeutung zukommt.
Es ist notwendig, Frauengesundheitszentren und -kommunikationszentren einzurichten. Solange die Gewalt gegen Frauen noch existiert, müssen Frauenhäuser zur Krisenhilfe geschaffen werden.
Kunst und Kultur
Gesellschaftliche, Konflikte müssen in der Kunst ihren Spannungsraum finden.
Voraussetzungen dafür sind Autonomie, Selbstverantwortung und Selbstorganisation der Kunst und Zugang zu Öffentlichkeit über Medien, öffentliche Räume und moderner Vervielfältigungstechniken ohne staatliche Zensur, persönlicher Verfolgung und Freiheitseinschränkungen. Damit sich die Frau über ihre bisherige Rolle hinaus als aktives Medium in der Gesellschaft darstellen kann, muss eine Quotenregelung in allen künstlerischen und kulturellen Organisationen erfolgen.
Entmilitarisierung
Um unsere Gesellschaft gerechter, friedlicher und ökologischer zu gestalten, müssen die vorhandenen Ressourcen so wirksam wie möglich eingesetzt werden.
Den Einsatz von Menschen, Material und Umwelt für militärische Zwecke können wir uns nicht leisten.
Wir sind der Überzeugung, dass
- sofortiger Rüstungsstopp und Abrüstung auf allen Gebieten,
- umfangreiche Friedensforschung (Abbau von Vorurteilen, Freund- und Feindbildern),
- Friedenserziehung statt Wehrkunde,
- Abschaffung der Wehrpflicht für Männer und Frauen unumgänglich sind.
Ebenso sind jegliches militantes Verhalten im Alltag und der in allen Lebensbereichen vorhandene Sexismus abzulehnen."
(Sabine und Zeno Zimmerling, Neue Chronik DDR 1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0582-4)