Brechend voll war die Erlöserkirche am Sonntag Abend, ungefähr zweitausend Menschen zwängten sich auf den Kirchenbänken, standen in den Gängen, auf den Emporen, im Vorraum. Alle waren gekommen, um ein Konzert zu hören, von dem vor drei Tagen noch niemand etwas gewusst hatte. Nirgends gab es Plakate, nirgends ein Programm. Ein Konzert in dieser Form und Besetzung hat es in der DDR noch nie gegeben.
Mehr als 30 Rockgruppen, Band-Leader und Jazzer, alle jene, die in der DDR-Musikszene das Sagen haben, waren gekommen, kurzfristig trotz anderer Termine, um anzuspielen gegen staatliche Repression und individuelle Apathie, um Mut zu machen, Mut zum Dableiben, Mut zum Einmischen, Mut zum Lautwerden. "Kommt zurück, wir brauchen euch, stört uns ... der Beton ist auch in unseren Köpfen." Es war ein Solidaritätskonzert, grundverschieden von all den aufwendig und teuer inszenierten "Rocks gegen Südafrika, Rocks gegen den Faschismus". Das war ein Konzert, gegeben von Künstlern, die sicher nicht für diesen Auftritt mit Berufsverbot belegt werden können, aber gegeben für Menschen, die gestern noch inhaftiert waren, übermorgen vielleicht inhaftiert werden. Die Staatsicherheit stand vor der Tür, notierte die Kennzeichen der parkenden Autos. "Die Zeiten spitzeln sich zu", kommentierten drinnen die Künstler das Vorgehen.
Ein Konzert für sich selber, für die Kraft zum Widerstand, ein gesungenes "Teach in", mit brandaktuellen Texten, kein Stück älter als 8 Tage, fast jeder Song eine Premiere, dreieinhalb Stunden lang, ununterbrochen. Musik, nicht für den CD-Player, sondern für Flugblätter und Schwarzkassetten. Toni Krahls virituos begleiteter Abgesang an Erich Honecker, "So winkt man, wenn der Zug abfährt, so winkt man hinter Schranken", war ein DDR-deutsches Lied, bleibt unverstanden von denjenigen, die nicht am 40. Jubeltag den greisen Mann, Haltung suchend auf der Tribüne gesehen hatten, wird verstanden von denjenigen, die nicht an den Fahrkartenschaltern Prag-Warschau stehen. In anderen Vorträgen heißt es: "Da stehen die Alten und können sich nicht halten", oder "Wir haben was von Dracula, riechen staatsfeindlich aus dem Mund" - beißende Texte, Wunden für die Stasi.
Keiner der spontan und eilig gekommenen Gruppen, ob "Pankow", "Silly", "City", die "Invaliden", ob Angelika Weiß, Tamara Danz oder Conny Bauer, Namen die zählen, keiner spielte mehr als zwei Stücke und alle, einschließlich der Stehenden und Sitzenden zum Abschluss "give peace a chance", das symbolträchtige Lied der Vietnam-, Bürgerrechts - und Friedensbewegung, weltweit.
Zwischen den dicht aufeinanderfolgenden Auftritten knapp verlesene Erklärungen gegen Willkür und Meinungsunterdrückung, Protestschreiben an Regierende, verfasst von Menschen aller Altersgruppen und Berufe. Manche Resolutionen waren eben erst fertig geworden, andere wurden in mehreren Anläufen mit immer neuen Zusätzen verlesen. Da trat ein Lehrer der 22. Polytechnischen Oberschule vor das Mikrophon. Am 11.10. war ihm gekündigt worden, pädagogisch sei er nicht geeignet und Unterstützer des Neuen Forums würde er auch sein, lautete die Begründung. Eltern, Schüler und Lehrerkollegen haben sich jetzt mit ihm solidarisiert, fordern jetzt öffentlich die Zulassung eines unabhängigen Interessenverbandes. Riesenbeifall für die Forderung, dass nach 40 Jahren gebetsmühlenhafter Einübung in den Sozialismus endlich Partei und Schule voneinander getrennt werden muss.
Da forderten Studenten die Gründung eines autonomen Studentenverbandes und berichten mit Orts- und Zeitangaben, dass schon viel dafür in die Wege geleitet worden sei - so zum Beispiel von 600 KommilitonInnen an der Ostberliner Humboldt-Universität. Schauspieler des Deutschen Theaters treten für eine Demonstration für Pressefreiheit ein, am 4. November soll sie in der Hauptstadt stattfinden. Und da trat ein SED-Stadtbezirksabgeordneter aus Prenzlau auf, nie wieder, so sagte er, wird es eine dermaßen arrangierte Kommunalwahl wie vom vergangenen März geben, es wird ein neues Wahlgesetz kommen, "grenzt die 2,3 Millionen SED-Mitglieder nicht aus, gebt nicht auf, es ist der letzte Versuch, wir brauchen den Protest der Straße".
Und immer wieder die Angst von vielen, ob Borsig-Arbeiter oder Studentenpfarrer, von den Weggehenden im Stick gelassen zu werden. In dieser Kirche war ein authentisches neues Bewusstsein zu spüren, ein DDR-Bewusstsein, dass von westlichen Wierdervereinigungsträumen nichts wissen will. Am Ende gingen alle still auseinander und eilten wie selbstverständlich zur U-Bahn. Es war eine Premiere, dieses Konzert in der Erlöserkirche, aber es lag die Überzeugung in der Luft, dass in Zukunft noch viele derartige Konzerte würden folgen müssen.
(die tageszeitung, Di. 17.10.89)