Vom Morgen bis zum Abend Tag des Dialogs gestern in Dresden. Den Auftakt bildete eine ganztägige Sitzung der Stadtverordnetenversammlung mit weitreichenden Vorschlägen - Abbau von Subventionen, mehr Umweltschutz - durch Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und erstmaligem Auftreten eines Repräsentanten der Dialoggruppe mit schwerwiegenden Vorwürfen an die Regierung. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, ergriff am Nachmittag vor den Abgeordneten des Bezirkstages das Wort. Die Diskussionen wurden abends auf vielen Foren weitergeführt.
Um einen lebenswerten Sozialismus mit effektiver Volkswirtschaft zu erreichen, müssten Mängel ohne Tabus beim Namen genannt werden, um sie gemeinsam zu bewältigen, sagte Oberbürgermeister Berghofer. Wer das Gefühl habe, nicht mehr angehört zu werden, der gehe auf die Straße. Das hätten Hans Modrow und er am 8. Oktober begriffen und deshalb den Dialog im Rathaus begonnen als einen Lernprozess für alle, "weil wir lernen müssen, einander zuzuhören, uns nicht gegenseitig zu belehren". Niemand habe ein Monopol auf die Wahrheit: "Nicht Losungen, sondern Lösungen sind gefragt, deshalb brauchen wir den schöpferischen Dialog mit allen Bürgern, auch mit Andersdenkenden, deren Widerspruch nicht mit Widerstand verwechselt werden darf."
Der Oberbürgermeister berief sich auf Generalmusikdirektor Weigle von der Dresdner Philharmonie, der das Wort "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" in "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" umzuwandeln empfohlen hatte.
In diesem Zusammenhang wandte sich Wolfgang Berghofer an die Kerzenträger unter den Demonstrierenden und schlug vor, "sich im freimütigen Disput geistig Lichter aufzustecken". Der Straßendialog habe Grenzen. Er warnte auch, "Druck aufzumachen", da dies die Gefahr der Konfrontation in sich berge. Da kämen auch Töne auf wie "Kommunistenschwein" und "Rote Lumpen".
Angenommen wurde der Vorschlag an die Stadtverordnetenversammlung, vierzehn zeitweilige Arbeitsgruppen, der auch Fachleute und interessierte Bürger ohne Mandat angehören können, zu bilden. Ihre Tätigkeit soll sich unter anderem auf Gesellschaftsstrategie des Sozialismus und Wirtschaftsentwicklung, Stadtentwicklung, Eigenverantwortung der Stadtverordneten und Bürgermitbestimmung, Entwicklung sozialistischen Rechts, Selbstverwirklichung der Jugend, Wohnen, Handel, Gesundheit, Natur und Umwelt ausdehnen.
Zur Begründung führte der Oberbürgermeister an: "Bürgerverantwortung braucht vielfältige Möglichkeiten, sich zu realisieren. Reichtum des Inhalts muss sich in einen Reichtum an Formen, Artikulationsmöglichkeiten und aktivem Mittun umsetzen. Das verstehe ich nicht als Opposition." Er erwarte ein streitbar debattierendes Stadtparlament.
Was Wolfgang Berghofer an Reformen vorschlug, hörte sich streckenweise wie ein Vorgriff auf ein Regierungsprogramm an:
• Vereinfachung der Strukturen des Staatsapparates,
• gestützte Mietpreise nur noch für zustehende normative Wohnflächen, kostendeckende Mieten für darüber hin ausgehende Quadratmeter,
• ähnliche Regelungen für Strom und Gas,
• veränderte Eintrittspreise für kulturelle Veranstaltungen, Museen, Theater und Konzerte,
• um die Stadt am Devisenerlös zu beteiligen, gesonderte Eintrittsregelungen für Touristen aus nichtsozialistischen Ländern,
• Entwicklung des Tourismus zu einem tragfähigen Industriezweig; die Einnahmen durch jährlich sechs Millionen Touristen sollen der Stadt zugute kommen.
Breiten Raum widmete der Oberbürgermeister dem Umweltschutz. Ökologie und Ökonomie müssten auf eine Stufe gestellt, das Verursacherprinzip durch neue Rechtsnormen voll durchgesetzt werden. Ziel sei, das Entstehen neuer Umweltbelästigungen zu verhindern und bestehende schrittweise abzubauen. So sollen die extensive Erweiterung industrieller Anlagen mit negativen Umweltfolgen verhindert, die Lufthygiene durch Abbau von Schadstoffbelastung verbessert werden. Für Entschwefelungs- und Entstaubungsanlagen verlangte er Mittel aus der Zentrale.
Erstmalig trug ein Vertreter der Dialoggruppe als eingeladener Gast auf der Stadtverordnetenversammlung seine Forderungen vor. Dr. Frank Neubert beklagte, dass gewaltlos für Veränderungen Demonstrierende als "Rowdys" und "Randalierer" beschimpft worden waren. Ohne diese Demonstrationen auf der Straße wäre seine Anwesenheit im Stadtparlament nicht möglich gewesen. "Ihr Mandat wird von vielen Bürgern angezweifelt", rief er den Stadtverordneten zu und berief sich dabei auf die Wahlen im Mai. In 200 Wahllokalen - etwa ein Viertel der Gesamtzahl - seien 2 000 Ablehnungen mehr gezählt worden als offiziell für die gesamte Stadt angegeben. Es fehle an Vertrauen, noch immer verließen Menschen das Land, weil Hoffnung fehle. Er forderte Anerkennung als mündige Bürger und bestritt dem Staat das Recht, die Bürger täglich zu bevormunden. Ebenfalls über Rundfunk übertragen wurde seine Kritik an Misshandlungen von Demonstranten.
(Die Wahrheit, Fr. 27.10.1989)
Stadtverordnetenversammlung: OB Wolfgang Berghofer unterbreitete ein Vorschlagspaket. Darin eingeschlossen u. a. Reduzierungen des Verwaltungsaufwandes, ein höherer Beitrag der ansässigen Betriebe zur Eigenfinanzierung der Stadt, veränderte Subventionspolitik bei Wohnungen, Energie, Kultur bis hin zur Wohnungspolitik und neue Steuergrundsätze zur Leistungssteigerung, u. a. im Handwerk. Weitere Vorschläge aus der neunstündigen Debatte: Um den Wohnungsfonds effektiver zu verwalten und Altbauten schneller zu sanieren, sollten in den Stadtbezirken juristisch selbständige Betriebe gebildet und dort den Räten unterstellt werden. Gefordert wurden Neuwahlen auf kommunaler Ebene. Noch in dieser Woche wird eine Interessengemeinschaft Stadtökologie gegründet.
Bezirkstag: Ratsvorsitzender Günther Witteck sagte, etwa 22 000 Bürger des Bezirkes haben in diesem Jahr die DDR verlassen, darunter 600 Ärzte und mittleres medizinisches Personal, 1 300 aus Handel und Versorgung, 1 280 aus dem Bau- und Verkehrswesen.
Sofortmaßnahmen: Studenten aus Hoch- und Fachschulen des Bezirkes sollen für Transport- und Umschlagarbeiten, im Handel und im Gesundheitswesen eingesetzt werden. Mit der Reduzierung des Leitungs- und Verwaltungspersonals von jetzt 16 auf 13 Prozent des Arbeitsvermögens könnten 30 000 Werktätige gewonnen werden. Unterstützung bietet die NVA im Bezirk mit 200 Kraft- und Baufahrern. Abgeordnete mehrerer Parteien forderten Fraktionen auch im Bezirkstag. Zur Sprache kam ebenso der zivile Wehrersatzdienst. Einstimmig wurde der Vorschlag angenommen, die Vorgänge in Königswartha bezüglich der katastrophalen Situation bei der Wasserversorgung von der Staatsanwaltschaft untersuchen zu lassen.
BZA
(BZ am Abend, Fr. 27.10.1989)