Rund 100 000 Bürger der Bezirksstadt waren auf ein Freigelände nahe dem Hygienemuseum gekommen. Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer informierte über die Ergebnisse eines außerordentlichen Plenums der Stadtverordnetenversammlung am selben Tage. Es hatte die Bildung von zeitweiligen Arbeitsgruppen und damit einen neuen Weg des gemeinsamen Tragens von Verantwortung beschlossen.
Das jetzt Begonnene werde in der Republik einen revolutionären Wandel auslösen, schätzte Hans Modrow, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, unter Beifall ein. Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten nahmen die Möglichkeit zur Anfrage wahr. Dafür standen mehrere kleine Podien mit Mikrofonen zur Verfügung.
Mit zunehmender Dauer der Veranstaltung gewann der Dialog an Gewicht, brachten Parteilose und Christen, Facharbeiter und Ingenieure, sich zum "Neuen Forum" oder für die Bildung einer unabhängigen Gewerkschaft bekennende Teilnehmer neben Kritischem Lösungsvorschläge ein: leistungsabhängige Gehälter auch dort, wo Verantwortung für die gesellschaftliche Entwicklung getragen wird: Privilegien für einzelne Funktionäre abschaffen.
"Für eine Marktwirtschaft sind wir nicht auf die Straße und als Atheisten in die Kirche gegangen", sagte der parteilose Norbert Sahr von Herrenmode Dresden und erhielt dafür Beifall. Er schlage vor, den Plan wieder zum Gesetz werden zu lassen, die Bezirksplankommission solle sich mit Experten und Bürgern beraten. Mehrfach unterstrichen Gesprächspartner ihren Willen zur Arbeit und zum gemeinsamen Handeln, denn "ohne funktionierende Wirtschaft können wir alle Reformen in den Wind schreiben", formulierte der Dresdner Günther Hoffmann. Übereinstimmung bekundete die Mehrheit der Bürger auf dem Platz auch darin, die Achtung voreinander zu bewahren und einander vorbehaltlos zuzuhören. Widerspruch wurde unter anderem bei Fragen zum Recht, zu den bestehenden demokratischen Strukturen sowie zu Vorstellungen über wirtschaftliche Umgestaltung laut.
Im Anschluss an die Veranstaltung formierte sich ein Zug von etwa fünf- bis sechstausend Menschen, die mit Spruchbändern, Kerzen und Fackeln von der Dialogstätte friedlich durch das Stadtzentrum zogen.
(Neue Zeit, Sa. 28.10.1989)
Am Abend fanden im Bezirk Dresden mehr als 400 Bürgerforen statt, auf denen Funktionäre aller Parteien und Massenorganisationen und Abgeordnete den Dialog mit Bürgern aller Klassen und Schichten führten. 100 000 Einwohner hatten sich auf einem Freigelände in der Nähe des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden versammelt, um am Massendialog teilzunehmen, bei dem auch der 1. Sekretär der Bezirksleitung Hans Modrow und Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer Rede und Antwort standen. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Günther Witteck weilte bei Studenten und Wissenschaftlern der TU Dresden. Es gab zwischen Görlitz und Riesa an diesem Abend kaum einen Saal, in dem nicht über die tiefgreifenden Veränderungen in unserer Gesellschaft leidenschaftlich debattiert wurde.
(Neues Deutschland, Fr. 27.10.1989)
Vom Morgen bis zum Abend Tag des Dialogs gestern in Dresden. Den Auftakt bildete eine ganztägige Sitzung der Stadtverordnetenversammlung mit weitreichenden Vorschlägen - Abbau von Subventionen, mehr Umweltschutz - durch Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und erstmaligem Auftreten eines Repräsentanten der Dialoggruppe mit schwerwiegenden Vorwürfen an die Regierung. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, ergriff am Nachmittag vor den Abgeordneten des Bezirkstages das Wort. Die Diskussionen wurden abends auf vielen Foren weitergeführt.
Um einen lebenswerten Sozialismus mit effektiver Volkswirtschaft zu erreichen, müssten Mängel ohne Tabus beim Namen genannt werden, um sie gemeinsam zu bewältigen, sagte Oberbürgermeister Berghofer. Wer das Gefühl habe, nicht mehr angehört zu werden, der gehe auf die Straße. Das hätten Hans Modrow und er am 8. Oktober begriffen und deshalb den Dialog im Rathaus begonnen als einen Lernprozess für alle, "weil wir lernen müssen, einander zuzuhören, uns nicht gegenseitig zu belehren". Niemand habe ein Monopol auf die Wahrheit: "Nicht Losungen, sondern Lösungen sind gefragt, deshalb brauchen wir den schöpferischen Dialog mit allen Bürgern, auch mit Andersdenkenden, deren Widerspruch nicht mit Widerstand verwechselt werden darf."
Der Oberbürgermeister berief sich auf Generalmusikdirektor Weigle von der Dresdner Philharmonie, der das Wort "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" in "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" umzuwandeln empfohlen hatte.
In diesem Zusammenhang wandte sich Wolfgang Berghofer an die Kerzenträger unter den Demonstrierenden und schlug vor, „sich im freimütigen Disput geistig Lichter aufzustecken". Der Straßendialog habe Grenzen. Er warnte auch, „Druck aufzumachen", da dies die Gefahr der Konfrontation in sich berge. Da kämen auch Töne auf wie "Kommunistenschwein" und "Rote Lumpen".
Angenommen wurde der Vorschlag an die Stadtverordnetenversammlung, vierzehn zeitweilige Arbeitsgruppen, der auch Fachleute und interessierte Bürger ohne Mandat angehören können, zu bilden. Ihre Tätigkeit soll sich unter anderem auf Gesellschaftsstrategie des Sozialismus und Wirtschaftsentwicklung, Stadtentwicklung, Eigenverantwortung der Stadtverordneten und Bürgermitbestimmung, Entwicklung sozialistischen Rechts, Selbstverwirklichung der Jugend, Wohnen, Handel, Gesundheit, Natur und Umwelt ausdehnen.
Zur Begründung führte der Oberbürgermeister an: "Bürgerverantwortung braucht vielfältige Möglichkeiten, sich zu realisieren. Reichtum des Inhalts muss sich in einen Reichtum an Formen, Artikulationsmöglichkeiten und aktivem Mittun umsetzen. Das verstehe ich nicht als Opposition." Er erwarte ein streitbar debattierendes Stadtparlament.
Was Wolfgang Berghofer an Reformen vorschlug, hörte sich streckenweise wie ein Vorgriff auf ein Regierungsprogramm an:
• Vereinfachung der Strukturen des Staatsapparates,
• gestützte Mietpreise nur noch für zustehende normative Wohnflächen, kostendeckende Mieten für darüber hin ausgehende Quadratmeter,
• ähnliche Regelungen für Strom und Gas,
• veränderte Eintrittspreise für kulturelle Veranstaltungen, Museen, Theater und Konzerte,
• um die Stadt am Devisenerlös zu beteiligen, gesonderte Eintrittsregelungen für Touristen aus nichtsozialistischen Ländern,
• Entwicklung des Tourismus zu einem tragfähigen Industriezweig; die Einnahmen durch jährlich sechs Millionen Touristen sollen der Stadt zugute kommen.
Breiten Raum widmete der Oberbürgermeister dem Umweltschutz. Ökologie und Ökonomie müssten auf eine Stufe gestellt, das Verursacherprinzip durch neue Rechtsnormen voll durchgesetzt werden. Ziel sei, das Entstehen neuer Umweltbelästigungen zu verhindern und bestehende schrittweise abzubauen. So sollen die extensive Erweiterung industrieller Anlagen mit negativen Umweltfolgen verhindert, die Lufthygiene durch Abbau von Schadstoffbelastung verbessert werden. Für Entschwefelungs- und Entstaubungsanlagen verlangte er Mittel aus der Zentrale.
Erstmalig trug ein Vertreter der Dialoggruppe als eingeladener Gast auf der Stadtverordnetenversammlung seine Forderungen vor. Dr. Frank Neubert beklagte, dass gewaltlos für Veränderungen Demonstrierende als "Rowdys" und "Randalierer" beschimpft worden waren. Ohne diese Demonstrationen auf der Straße wäre seine Anwesenheit im Stadtparlament nicht möglich gewesen. "Ihr Mandat wird von vielen Bürgern angezweifelt", rief er den Stadtverordneten zu und berief sich dabei auf die Wahlen im Mai. In 200 Wahllokalen - etwa ein Viertel der Gesamtzahl - seien 2 000 Ablehnungen mehr gezählt worden als offiziell für die gesamte Stadt angegeben. Es fehle an Vertrauen, noch immer verließen Menschen das Land, weil Hoffnung fehle. Er forderte Anerkennung als mündige Bürger und bestritt dem Staat das Recht, die Bürger täglich zu bevormunden. Ebenfalls über Rundfunk übertragen wurde seine Kritik an Misshandlungen von Demonstranten.
(Die Wahrheit, Fr. 27.10.1989)