Mit dem Blick nach vorn und ihren Überlegungen fördert die CDU den Dialog in unserem Land

Präsidium des Hauptvorstandes befasste sich mit der gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Situation und der Lage in der Partei - Gerald Götting: Aussprache in Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens Verantwortungsbewusstes Handeln in Eigenständigkeit und Bündnisverpflichtung

Das Präsidium des Hauptvorstandes der CDU tagte am 16. Oktober 1989 unter Leitung des Parteivorsitzenden Gerald Götting. An der Beratung nahmen die Vorsitzenden der CDU-Bezirksverbände, die Abteilungsleiter beim Sekretariat des Hauptvorstandes und die Chefredakteure der CDU-Presse teil.

Das Präsidium befasste sich in lebhafter Aussprache mit der gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Situation und mit der Lage in der Partei. Es beschäftigte sich mit den Wortmeldungen von Mitgliedern, Vorständen und Ortsgruppen zum Profil und zur Arbeit der Partei, mit ihrer Kritik und mit ihrer Sorge angesichts vieler Probleme im Lande, die Bürger belasten.

Das Präsidium unterstrich, dass die CDU und ihre Mitglieder aktiv und mit eigenen Überlegungen den Dialog mittragen, der jetzt in unserem Land über grundlegende Fragen der Gesellschaft, über ihren Weg im fünften Jahrzehnt der DDR begonnen hat. Es stimmte den Ergebnissen des Gesprächs zu, das Erich Honecker und die Vorsitzenden der befreundeten Parteien sowie der Präsident des Nationalrates der Nationalen Front der DDR am 13. Oktober geführt haben.

"Wir begrüßen und fördern", erklärte Gerald Götting in grundlegenden Ausführungen zu Beginn der Beratung, "die Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens, in der darüber gesprochen wird, was die Menschen bewegt. Vor allem geht es dabei um all das, was besser und anders gemacht werden muss, damit das in vierzig Jahren gemeinsamer Arbeit Erreichte bewahrt und weiter ausgebaut werden kann. Die CDU beteiligt sich an diesem Gespräch mit Standpunkten und Anregungen, die uns voranbringen. Als eine Partei, die den sozialistischen Staat mitträgt und seine Politik mitgestaltet, ist sie daran interessiert, dass seine politischen, ökonomischen, demokratischen, geistigen und moralischen Potenzen voll ausgeschöpft werden. Als christliche Demokraten wollen wir unser Wissen und Können, unsere Erfahrungen, Ideen und sittlichen Anstrengungen für unser Land einsetzen, in dem sich jeder Bürger selbst verwirklichen, mit dem er sich identifizieren und in dem er seinen Beitrag zum Wohle des Mitmenschen und des Ganzen leisten kann."

Das Präsidium des Hauptvorstandes dankte allen Unionsfreunden, die in den vergangenen Wochen ungeachtet mannigfacher und ungewohnter Probleme mit Besonnenheit und in politischer Verantwortung ihre Arbeit für die Sicherung des inneren Friedens geleistet und damit die Aussagen unseres 16. Parteitages auf die Gegenwart angewendet haben. Mit Herz und Verstand, mit der Fähigkeit zuzuhören, aber auch mit der Entschlossenheit, zurückzuweisen, was unser Bündnis und seine Ergebnisse in Frage stellt, haben sich die Mitglieder der CDU komplizierten Anforderungen, hohen Belastungen und neuen Fragen gestellt. Nicht jeder Unionsfreund hat Antworten gefunden, Verluste sind zu beklagen.

Unsere Partei hat in der Orientierung auf Kontinuität und Erneuerung - im Bestreben, die imperialistischen Aktionen gegen unsere Gesellschaft abzuwehren - in letzter Zeit vor allem auf Kontinuität gesetzt. Sie hat hierbei in Sorge um die Errungenschaften des Sozialismus auch Signale aus den eigenen Reihen nicht früh genug beachtet.

In den geistigen und politischen Kämpfen der letzten Wochen hat sich gleichzeitig gezeigt, dass die CDU über innere Kräfte verfügt, um Eigenständigkeit und Bündnisverpflichtung zu verbinden sowie bei weltanschaulichem Dissens den politischen Konsens im Wirken für Frieden, Demokratie und Sozialismus zu gestalten. Damit bleibt die CDU ihren Grundsätzen treu, geht sie besonnen und konsequent ihren Weg nach vorn.

Das Präsidium teilt die Betroffenheit der Mitglieder angesichts der Abwanderung vieler Bürger und der dadurch entstehenden Lücken nicht zuletzt dort, wo es um die Betreuung alter, kranker und behinderter Menschen geht. So sehr dieser Vorgang durch verantwortungslosen Medienrummel stimuliert wurde, so sehr ist es gleichermaßen notwendig, Ursachen bei uns zu suchen und sie zu beseitigen. Das Präsidium des Hauptvorstandes der CDU setzt sich in diesem Zusammenhang dafür ein,

- dass gesellschaftliche Entwicklungsprobleme öffentlich benannt und durch gemeinsame Anstrengungen überwunden werden,

- dass im Leben gilt, was Recht und Gesetz ist,

- dass das Wahlrecht strikt angewandt wird,

- dass Offenheit und Öffentlichkeit des Dialogs und der Entscheidungsfindung sich in den Medien widerspiegeln,

- dass die Mündigkeit des Bürgers in jeder Amtsstube geachtet wird. Die Erweiterung der Reisemöglichkeiten und die Verbesserung der Versorgung sind weitere Anliegen der CDU.

Neue Reserven gilt es für die politische wie ökonomische Effektivität der sozialistischen Gesellschaft zu erschließen. Die CDU sieht sie vor allem darin,

- dass sozialistische Demokratie für jeden Bürger spürbar wird - durch seine Einbeziehung in Entscheidungen: durch öffentliche Diskussion von Varianten: durch volle Wahrnehmung der Verantwortung der Volksvertretungen; durch achtungsvollen Umgang mit jedem Bürger bei jeder Angelegenheit; durch Toleranz und Respekt gegenüber jeder Überzeugung, die von politischer Vernunft und humanistischen Zielen bestimmt ist;

- dass überall, vor allem und zuerst in der Volkswirtschaft, Leistung für die Gesellschaft gefördert und gefordert wird - durch ehrlichen Lohn für ehrliche Arbeit; durch Schaffung aller Voraussetzungen am Arbeitsplatz, damit Leistungswille auch verwirklicht werden kann; durch ein Waren-, Dienstleistungs- und Reiseangebot, mit dem erarbeitete Einkommen vielseitig realisiert werden können;

- dass wir einen offenen und ehrlichen Umgang miteinander pflegen, der öffentlich sichtbar wird - durch gegenseitiges Vertrauen, das Meinungsstreit nicht ausschließt; durch sachgerechte Information über Aufgaben und Probleme als Voraussetzung für eine demokratische Entscheidungsfindung; durch eine Arbeit von Presse, Rundfunk und Fernsehen, die es jedem Bürger ermöglicht, sich ein reales Bild über seine Heimat und über die Vorgänge in der Welt zu verschaffen, das seine eigenen Erfahrungen bereichert und politisch von unseren, von sozialistischen Werten bestimmt ist.

Das Präsidium des Hauptvorstandes der CDU unterstrich im gleichen Zusammenhang: Unverzichtbar ist für die CDU all das, was wir in unserer Gesellschaft Gutes erreicht haben, unverzichtbar sind für uns die Ergebnisse grundlegender Reformen der Vergangenheit, unverzichtbar ist, was zum Sozialismus in der DDR und zu seinen eigenen Zügen beigetragen und sich dabei für den Menschen, für das Wohl des Volkes bewährt hat. Wir halten fest

- an unserer Gemeinsamkeit im Bündnis aller gesellschaftlichen Kräfte, zu dem die Arbeiterklasse als stärkste Kraft auch künftig den entscheidenden Beitrag leistet;

- an einer Wirtschaftsstrategie, die eine effektive Planung ermöglicht und für die Bedürfnisse des Marktes arbeitet, die Eigenverantwortung fördert und in ihrer Wirkung auch durch private Initiative bereichert;

- an sozialer Sicherheit und Arbeitsmöglichkeit für jedermann als Charakteristikum dessen, was für uns den Sozialismus von jeder anderen Ordnung im Interesse der Menschen abhebt;

- an gleichen Rechten und Pflichten für jeden Staatsbürger, unabhängig von weltanschaulichem oder religiösem Bekenntnis und von sozialer Herkunft;

- an einem kulturellen Leben, das die Vielfalt der geistigen Traditionen und weltanschaulichen Überzeugungen widerspiegelt;

- an einer geistigen und gesellschaftlichen Haltung, in der Lasten und Früchte der Arbeit gemeinsam getragen werden.

Vor allem kommt es darauf an, den schöpferischen und konstruktiven Beitrag der CDU zum Aufbau einer internationalen Friedensordnung, also zu Abrüstung, zu neuem Denken, zur Kooperation der Staaten und Völker, zur Entfaltung der menschlichen Dimensionen dieses Prozesses, zu leisten. Die Friedenspolitik der DDR - herausgewachsen aus den von ihr getragenen antifaschistischen Traditionen und Alternativen - und ihre internationale Solidarität gehören zu den bleibenden und unverwechselbaren Positionen unseres Landes.

Das Präsidium appellierte an alle Mitglieder, den Blick nach vorn zu richten. Jeder Vorstand ist aufgerufen, seine Verantwortung für das Territorium wahrzunehmen. Das erfordert das Gespräch mit allen Mitgliedern, Vorstellungen für ein Sachprogramm des Territoriums, die Aktivierung der Mitarbeit aller Unionsfreunde. Das erfordert zugleich eine konstruktive Orientierung auf die wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben der Partei durch die nächste Tagung des Hauptvorstandes.

Das Präsidium dankte für alle Anregungen und Vorschläge, die dazu von Vorständen und Mitgliedern gekommen sind und kommen werden.

Mit Energie, Erfahrung und Sachkenntnis wollen wir auch das fünfte Jahrzehnt der DDR mitgestalten als Christen, die ihre Parteiarbeit als Dienst am Nächsten und am Frieden verstehen.

Neue Zeit, Di. 17.10.1989, Jahrgang 45, Ausgabe B, Nr. 244, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

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