Das Wohl des Volkes ist unser elementarer Leitsatz

Erklärung von Egon Krenz vor der Volkskammer der DDR

Verehrte Abgeordnete!

Der Vorschlag der Fraktion meiner Partei und Ihr Vertrauen haben mich in dieses hohe Amt geführt. Ich danke Ihnen für Ihr Votum.

Ich versichere Ihnen und allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, meine Kraft, meine Energie und mein Pflichtbewusstsein in diese Aufgabe einzubringen. Ich bin mir der Größe der Verantwortung vor unserem Volk bewusst.

Das heutige Wahlergebnis spricht für das notwendige und begrüßenswerte neue Selbstbewusstsein unseres Hohen Hauses. Zugleich will ich jedoch versichern, dass ich meine Pflicht dem Amt gegenüber als Verantwortung gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes verstehe und jederzeit so handeln werde.

Der Vorsitz des Staatsrates ist viele Jahre von einem erfahrenen Politiker, von einem Staatsmann mit großem internationalem Ansehen geführt worden - vom Abgeordneten Erich Honecker. Wir und - ich darf in diesem Fall wohl sagen - die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes entbieten ihm dafür Respekt. Wir danken Erich Honecker für sein politisches Wirken und wünschen ihm Gesundheit und Wohlergehen. (Beifall)

Dem Wohle des Volkes zu dienen ist der elementare Leitsatz unseres Tuns als gewählte Abgeordnete der obersten Volksvertretung der Deutschen Demokratischen Republik. Er wurzelt in dem Verfassungsgrundsatz, dass in unserem sozialistischen Staat alle politische Macht von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt wird.

Mit Kompetenz, Konsequenz und Mut zur Wahrheit auf die Erfordernisse der Zeit reagieren

In diesen ereignisreichen Tagen sind die Bürger weithin von wahrer Aufbruchsstimmung erfüllt. Die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED hat eine Wende in der Entwicklung unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht eingeleitet. Zu Beginn des fünften Jahrzehnts unserer Republik weitet sich unser Blick für Verantwortung, Aufgaben und Chancen, um auf solide Weise, unter Berücksichtigung und besserer Nutzung unserer realen Möglichkeiten und mit neuem Elan den Sozialismus für die Herausforderungen der 90er Jahre zu wappnen. Der Auftrag des Volkes an uns, verehrte Abgeordnete, erlegt uns heute drängender denn je die Pflicht auf, mit Kompetenz, Konsequenz und Mut zur Wahrheit auf die Erfordernisse der Zeit zu reagieren und ständig bessere Antworten auf die nicht einfachen Fragen zu finden, die in unserem Lande der Lösung harren. Alles, was wir tun, wird stets und vor allem an den Wirkungen für die Menschen zu messen sein.

Dialog - notwendiger und ständiger Teil unserer politischen Kultur

Sich die gewaltigen Kräfte zu erschließen, die in den modernen Technologien stecken, ist dafür unerlässlich. Dem gilt unser aller unvermindertes Bemühen auch in Zukunft. Den gegenwärtigen und den künftigen Erfordernissen und Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution ist nicht anders zu entsprechen. Sie werden auch neue ökonomische Überlegungen Nur so sind die Mittel zu erlangen für das unverrückbare Ziel und den Zweck unserer Politik: Für das Wohl des Volkes, die Sicherung des Friedens und den gesellschaftlichen Fortschritt.

Die Erneuerung unserer Gesellschaft, die wir erstreben, braucht das feste sozialistische Fundament, das wir gemeinsam gelegt haben. Darin sind wir uns alle einig - wir alle im demokratischen Bündnis: Erneuerung braucht die Solidität und die Identität, die im Geschichtlichen wurzeln, ohne dass wir über Fehler und deformierende Einseitigkeiten hinweggehen, die den Bau unserer neuen Ordnung in vergangenen Jahrzehnten auch begleitet haben.

Politik für die Menschen aller Klassen und Schichten lässt sich indes nur machen, wenn man ihren Fleiß und ihre Lebenserfahrung, ihre Interessen und Bedürfnisse, ihr Urteilsvermögen, ihre Hinweise und ihre Sorgen täglich bewusst zur Kenntnis und zur Grundlage politischer Entscheidungen nimmt. Der Dialog dient dem. Er wird ein notwendiger und ständiger Teil unserer politischen Kultur sein und bleiben.

Selbstvertrauen und Sachverstand in allen Entscheidungen

Was gegenwärtig nötig ist, hat ein Mann aus dem Berliner Werkzeugmaschinenkombinat "7. Oktober", ein aktiver Gewerkschafter, wohlüberlegt zum Ausdruck gebracht. Während eines Gesprächs über die gegenwärtige Situation in unserer Gesellschaft sagte er in einer erfrischenden Debatte: Unser gemeinsames Handeln für unser Land braucht Offenheit, Besonnenheit und Konstruktivität. Das sind kluge Überlegungen; ich will ihnen noch zwei hinzufügen: zu uns selbst und Sachverstand in allen Entscheidungen. Zu dieser Forderung an unsere Arbeit als Vertreter des Volkes bekenne ich mich als Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik.

Wir stehen vor der Aufgabe, den lebendigen, schöpferischen Sozialismus - wie ihn Lenin nannte - als Werk der Volksmassen umfassender und erlebbarer als bisher zu verwirklichen. Daran knüpft sich die Frage, wie es uns - nicht zuletzt auch hier in der Volkskammer - fortan besser gelingen möge, dass die Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse in der Gesellschaft als erlebbare Akte der Souveränität des Volkes gestaltet und überall auch so verstanden werden. (Zuruf: Sehr gut!) Das ist um so wichtiger, als ja das Wirken eines jeden für die gemeinschaftlichen Ziele ein Vorgang ist, in denen die ganze Vielfalt individueller Eigenschaften und Fähigkeiten der Menschen, ihre verschiedenartigen Ideen und Initiativen und der Reichtum sehr unterschiedlich ausgeprägter Charaktere einfließen.

Verantwortung dort wahrnehmen, wo sie übertragen wurde

Die Vielfalt der Meinungen bereitet den Boden für einen fundierten und freimütigen Dialog. Aus dem Für und Wider in der Debatte um die besten Varianten für die Ausgestaltung unserer Gesellschaft erwächst die Chance, die zum gegebenen Zeitpunkt effektivste und damit für die Bürgerinnen und Bürger beste Lösung zu finden. Grundlage dafür ist Artikel 1 der Verfassung unseres Landes: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei." Alles, verehrte Abgeordnete, was wir an Reformen durchzuführen haben, und wir wollen sie durchführen, ist diesem vom Volke gegebenen Auftrag verpflichtet. (Beifall) Notwendig in dieser Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs ist zuallererst, dass jeder gewissenhaft die Verantwortung dort wahrnimmt, wo sie ihm übertragen wurde.

Das Brot des Volkes ist nur in gewissenhafter, gemeinsamer Arbeit zu schaffen

Die Zusammenarbeit aller Parteien, das demokratische Bündnis aller Kräfte des Volkes in der Nationalen Front erhält einen neuen Rang. Das Nachdenken darüber schließt ein, im sachlichen Dialog vor Ort Wege zu finden, um alle, die im Sinne der Verfassung dem nationalen und internationalen Interesse verpflichtet sind, mit ihren Fragestellungen und Angeboten zur Mitarbeit in kommunale und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einzubeziehen. (Beifall) Jeder ist aufgerufen, seinen Beitrag zu leisten für eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit in unserer sozialistischen Gesellschaft und für sie. Dazu ist Sachkenntnis und die Besonnenheit aller Bürgerinnen und Bürger nötig. Wer das Wohl des Volkes mit dem Ernst will, der für diese Pflicht notwendig ist, der wird immer zuerst an das Einende denken und das Gemeinsame suchen, ohne bestehende unterschiedliche Standpunkte damit zu verdrängen. Mit meinen Gesprächspartnern vom Bund der Evangelischen Kirchen der Deutschen Demokratischen Republik waren wir nach unserer Begegnung in der vergangenen Woche in der Überzeugung einig, dass es für den Dialog der Achtung vor der Überzeugung und dem Auftrag des jeweiligen anderen bedarf. Ich bin bereit, nach dieser Gemeinsamkeit zu handeln.

War sollten alles tun, um jede Zuspitzung oder gar Konfrontation zu vermeiden. (Beifall) Diese würde die Gefahr heraufbeschwören, vieles, was in Bewegung gekommen ist, in Frage zu stellen. Demonstrationen, so friedlich sie gedacht und angelegt sein mögen, tragen in dieser komplizierten Zeit immer die Gefahr in sich, anders zu enden, als sie begonnen haben. Zu Recht beunruhigt das viele Bürger in unserem Lande. Unsere Gesellschaft, die so vieles Neue in Angriff zu nehmen hat, wird dadurch zusätzlich unter Spannung gesetzt. So wichtig Dialog und Debatte sind - und ich "bekenne mich dazu hier und zu jeder Zeit -, aber das Brot des Volkes ist nur in gewissenhafter, von der eigenen Verantwortung für das Ganze bestimmter gemeinsamer Arbeit zu schaffen. (Lebhafter Beifall)

In vier Jahrzehnten entstand vieles von bleibendem Wert

Arbeit und das Sichern aller notwendigen Voraussetzungen für sie sind die Grundlage für unseren Erfolg. Niemand konnte bisher beweisen, dass man eine Gesellschaft aufbauen und leiten kann ohne Arbeit. Unsere Gesellschaft vertraut auf die Werktätigen an ihren Arbeitsplätzen, auf eine konsequente und zugleich feinfühlige Leitungstätigkeit auf allen Ebenen, die herzloses Verhalten und bürokratisches Verhalten ausschließt. Sie baut auf die unersetzbare Kraft der über neun Millionen Gewerkschaftsmitglieder und ihrer Klassenorganisation, den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, und auf den Elan der Jugend und ihrer Organisation, der Freien Deutschen Jugend.

Mit der 9. Tagung ihres Zentralkomitees hat die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in großen Konturen ein Bild vom gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft umrissen. Es stellt die unbestreitbare Wahrheit in den Vordergrund, dass in unserer Deutschen Demokratischen Republik in den vergangenen vier Jahrzehnten unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei und durch den Fleiß des ganzen Volkes vieles entstanden ist, was unverwechselbar das sozialistische Antlitz unseres Landes prägt. Das ist von bleibendem Wert und das beschützen wir. Gleichzeitig verweist die Einschätzung auf viele komplizierte Entwicklungsprobleme und subjektiv verursachte Fehlentwicklungen, die zu überwinden außerordentliche Anstrengungen erfordern und nicht von einem auf den anderen Tag möglich sind.

Die sozialistische Gesellschaft befindet sich in einem großen Lernprozess. Ihm sollte sich niemand entziehen: ich meine, auch jene nicht, die glauben, der Weg zur Wahrheit ließe sich allein mit Emotionen finden oder gar beschreiten.

Mit unseren Erfolgen realistisch und mit Widersprüchen offen umgehen

Wir lernen, mit unseren Erfolgen realistisch und mit unseren Widersprüchen offen umzugehen. Wir lernen, direkter und gegenseitig fordernder aufeinander zuzugehen, einen sachlichen innenpolitischen Dialog zu führen, dessen Ziel nur sein kann, unser in guten wie in weniger guten Zeiten bewährtes Miteinander im Bündnis zu erweitern und zu vertiefen.

Wir lernen auch, die Erfahrungen unserer sowjetischen Freunde und der anderen sozialistischen Bruderstaaten sorgsamer zu prüfen und das, was sich bewährt, schöpferisch unter den nationalen Bedingungen unseres Landes anzuwenden. Mein bevorstehendes Treffen mit dem höchsten sowjetischen Repräsentanten, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, wird den festen Bruderbund zwischen unseren beiden Staaten, dessen bin ich sicher, nicht nur bekräftigen, sondern ihm neue Impulse verleihen und dem vorurteilsfreien Erfahrungsaustausch zwischen unseren Ländern zum gegenseitigen Vorteil dienen. (Beifall)

Das demokratische Miteinander im Inneren und das internationalistische Miteinander mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Bruderländern, die effektivere Zusammenarbeit im RGW und die Festigung des politischen Bündnisses des Warschauer Vertrages sind Garantien, um trotz alledem zuversichtlich die Aufgaben von heute anzupacken und solide Wege für die Zukunft zu finden.

Der sich auf dem Boden unserer Gesellschaftsordnung entwickelnde neue demokratische Geist, der unser Land erfasst hat, wird sich auch in diesem Hause, davon bin ich fest überzeugt, widerspiegeln. Ich bin mir mit dem Präsidium der Volkskammer einig, die Kammer, ihre Ausschüsse und die Abgeordneten aller Fraktionen werden den gesamten Prozess der Vorbereitung von Gesetzen bis zur Kontrolle Ihrer Durchführung unmittelbar und intensiver in die Hand nehmen und sich vielstimmig und hörbar in der Gesellschaft als oberstes Machtorgan unseres Volkes zu Wort melden. (Beifall) Wie die Erfahrungen in den Wahlkreisen zeigen, verlangen das die Wähler von uns. Wir alle sind Teil unseres Volkes und haben keine anderen Interessen als das Volk. Unser Privileg, verehrte Abgeordnete, heißt harte, zuverlässige, dem Volke nutzbringende Arbeit. Nur so ist Vertrauen zu gewinnen und zu erhalten. Ja, es ist eine vom Leben bestätigte Wahrheit: Wir brauchen die sozialistische Demokratie wie die Luft zum Atmen. (Beifall)

Gesetzgebung kann sich nicht erschöpfen in Zustimmung

Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang einige Gedanken, die ich im Einvernehmen mit dem Präsidenten der Volkskammer aus Gesprächen mit zahlreichen Abgeordneten und aus Hinweisen meiner und anderer Fraktionen aufgegriffen habe. Die Volkskammer wird mit dem Plangesetz für das bevorstehende Jahr äußerst wichtige Entscheidungen für die weitere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu treffen haben. An die Vorbereitung dieser Entscheidungen sollte auf neue Weise herangegangen werden, und zwar so, dass die Erfahrungen und Vorschläge der Abgeordneten sowie die Ergebnisse ihrer Diskussion mit den Wählern im Gesetz direkter zur Geltung kommen und Vorschläge für Reformen in Angriff genommen werden können.

Generell erscheint es mir notwendig, der Gesetzesvorbereitung ausreichende Fristen einzuräumen. Gesetzgebung kann sich nicht in der Zustimmung der Ausschüsse und Abgeordneten zu Regierungsvorlagen erschöpfen. (Beifall) Sie braucht auch im Plenum der Volkskammer die gründliche, natürlich auch kritische und selbstkritische Diskussion, um kluge Lösungen für die Bürger unseres Landes zu finden. Das und nichts anderes sollte der Maßstab unserer Arbeit als Volksvertreter sein. Diese Art demokratischer Entscheidungsfindung schließt die Nutzung der guten Erfahrungen vergangener Jahre ein, in denen wir die Verfassung unseres Staates wie die Entwürfe bedeutender Gesetze der Bevölkerung zur breiten, öffentlichen Aussprache unterbreitet haben. Diese demokratische Tradition unserer Entwicklung sollte wieder lebendig werden. Die Volkskammer sollte ihre parlamentarische Praxis wieder aufnehmen, Gesetzentwürfe in zwei oder - wenn nötig - in mehreren Lesungen zu behandeln. Das wird der Tätigkeit der Fraktionen eine neue Qualität geben.

Künftig: Minister berichten in den Plenartagungen der Volkskammer

Überlegunswert scheint mir, künftig den Gesetzgebungsplan durch den Ministerrat vorzubereiten und ihn von der Volkskammer zu beschließen. Das sollte geschehen, nachdem er zuvor in den Ausschüssen gründlich beraten wurde. Es scheint uns ferner an der Zeit, dass die Volkskammer dazu übergeht, in ihren Plenartagungen Berichte des Ministerrates sowie von Ministern, des Generalstaatsanwaltes und des Präsidenten des Obersten Gerichtes über die Durchführung der Gesetze entgegenzunehmen und zu erörtern. Mit dem Vorsitzenden des Ministerrates gibt es volle Übereinstimmung, dass die Regierung ihre Tätigkeit als Organ der Volkskammer gestaltet und in diesem Sinne noch mehr Initiative entwickelt. (Beifall)

Die Volkskammer sollte sich regelmäßig mit den Ergebnissen der Verwirklichung der von ihr beschlossenen Gesetze befassen. Die Ausschüsse hätten so Gelegenheit, dazu ihre Standpunkte, Hinweise und Vorschläge vor dem Plenum der Volkskammer zu unterbreiten, zu denen sie auf Grund ihrer Untersuchungen und Kontrollen in Betrieben, Genossenschaften und Einrichtungen sowie in Städten und Gemeinden gelangt sind. Zu erwägen ist auch, ob die Struktur und Aufgabenstellung der Ausschüsse der Volkskammer den neuen Erfordernissen besser angepasst werden. Hohen Stellenwert haben bekanntlich die ökologischen Probleme erlangt. Es scheint angeraten, auch in der Volkskammer einen Ausschuss für Umweltschutz zu bilden. (Beifall) In den örtlichen Volksvertretungen ist das bekanntlich schon geschehen. Zu prüfen wäre ebenfalls, ob für die Bereiche Industrie, Bauwesen und Verkehr künftig weiterhin nur ein Ausschuss der Volkskammer bestehen soll. Im Präsidium der Volkskammer gibt es darüber hinaus Überlegungen, wie eine wirksamere Zusammenarbeit der Ausschüsse zu organisieren ist.

Zur lebendigen parlamentarischen Arbeit der Volkskammer gehört, dass die Massenmedien die Bürger fundiert und aktuell über den Prozess der parlamentarischen Willensbildung informieren. Die Öffentlichkeit will über die Tätigkeit der Volkskammer, ihrer Ausschüsse und der Abgeordneten Bescheid wissen. Dem sollte mit einer umfassenden und qualifizierten Parlamentsberichterstattung Rechnung getragen werden.

Was für Städte und Gemeinden die Eigenverantwortung bedeutet

Was für Volkskammer und Regierung gilt, trifft auch für die Arbeit der örtlichen Volksvertretungen und ihre Räte zu. Groß bleibt die Verantwortung, um Lösungen für die Probleme des Alltags in den Städten und Gemeinden zu finden, die von allen Kräften des demokratischen Blocks gemeinsam getragen und verwirklicht werden. Niemandem kann es gestattet sein, in ihre durch das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen festgelegten Rechte einzugreifen.

Gemeinsam mit den Überlegungen der SED sind zahlreiche wertvolle Vorschläge der DBD, der CDU, der LDPD und der NDPD sowie der Massenorganisationen für die weitere Gestaltung unserer Gesellschaft zu nutzen. Die Interessen der Bürger erfordern es, viel energischer mit eigener Kraft und Initiative für gute Arbeits- und Lebensbedingungen in den Städten und Gemeinden zu sorgen. Eigenverantwortung der Städte und Gemeinden bedeutet auch, dass sie dazu über materielle und finanzielle Mittel verfügen, um beispielsweise den Wohnungsfonds zu erhalten, die Infrastruktur sowie haus- und stadtwirtschaftliche Dienstleistungen auszubauen. Das betrifft auch die weitere Förderung und Leistungsentwicklung von Handwerk und Gewerbe.

1991 Wahlen zur Volkskammer und den Bezirkstagen

In dieser Richtung wird auch der Staatsrat künftig seine in der Verfassung festgelegten Aufgaben zur Unterstützung der örtlichen Volksvertretungen wirksamer wahrnehmen. Ich erachte es als dringlich, dass sich der Staatsrat auf einer seiner nächsten Sitzungen generell mit seinem Arbeitsprogramm und einem neuen Arbeitsstil befasst. Alle dafür eingehenden Überlegungen und Vorschläge werden in die Debatte einbezogen. Für die Vorbereitung der Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen im Jahre 1991 sind alle Erfahrungen aus vorangegangenen Wahlen sowie Hinweise und Eingaben zu ihnen gründlich aufzuarbeiten und - falls erforderlich - für die Wahlgesetzgebung zu berücksichtigen.

Rechtsschutz der Bürger wird weiter erhöht

Konsequent hat unsere Gesellschaft am weiteren Ausbau des sozialistischen Rechtsstaates zu arbeiten. Ich betone hier noch einmal ausdrücklich: Vor dem Gesetz ist jedermann gleich und entsprechend gleich zu behandeln. Entsprechend diesem Verfassungsprinzip besteht die Absicht, die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen auf weitere Bereiche der staatlichen Tätigkeit auszudehnen. Dadurch wird der Rechtsschutz der Bürger weiter erhöht. Als nächste Gesetzgebungsaufgabe steht unter anderem die Behandlung des Reisegesetzes auf der Tagesordnung.

Wie Ihnen bekannt ist, gibt es in unserer Öffentlichkeit Fragen zur unterschiedlichen Behandlung von Bürgern der DDR, die unseren Staat unter Umgehung der Gesetze verlassen haben bzw. dazu den Versuch unternommen hatten. Den Justizorganen sollte deshalb empfohlen werden, umgehend rechtliche Regelungen zu schaffen, um auch auf diesem Gebiet dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz Rechnung zu tragen und jede Zweigleisigkeit auszuschließen.

Hier hat jeder eine Perspektive - dafür werben wir heute

Ich möchte die Tribüne dieses Hohen Hauses nutzen, um erneut an unsere Mitbürger zu appellieren, die sich möglicherweise weiterhin mit dem Gedanken tragen, unser Land zu verlassen: Unsere Heimat, ihre Freunde, ihre Kollegen, wir alle brauchen Sie. (Sehr wahrt) Jeder, der uns verlässt, ist einer zu viel. Unser Land erlebt einen neuen Aufbruch. Wir wollen ihn mit allen gehen. Wir sind uns gewiss: Hier hat jeder Bürger eine Perspektive, die den Einsatz von uns allen lohnt, und dafür werben wir heute. (Beifall)

Werte Abgeordnete!

Bekannt sind die unterschiedlichen Reaktionen auf polizeiliche Maßnahmen gegen Störungen der öffentlichen Ordnung. Dass es bei einigen Demonstrationen zu Härten kam, ist zu bedauern. Wer ungerecht oder unwürdig behandelt worden ist; kann jeden Rechtsschutz und alle Rechtsmittel in Anspruch nehmen. Die verantwortlichen Staatsorgane werden Anzeigen gewissenhaft prüfen und - wo Beweise vorliegen - schuldhaftes Verhalten ahnden. Der Staatsrat sollte dazu einen ausführlichen Bericht des Generalstaatsanwaltes der DDR entgegennehmen, über dessen Inhalt die Öffentlichkeit informiert wird. Die Achtung und der Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Verfassungsgebot für die Arbeit aller Staatsorgane. (Beifall) Noch heute werden wir auf einer Sitzung des Staatsrates einen Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Nationale Verteidigung entgegennehmen und ihn der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Erklärter Wille bleibt: Politische Probleme mit politischen Mitteln lösen

Es muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass die Volkspolizei unserer Arbeiter- und-Bauern-Macht entsprechend den geltenden Gesetzen die Aufgabe hat, das friedliche Leben und die Arbeit der Bürger zu sichern. Wie sie sich dieser Aufgabe trotz der Gefährdung der Gesundheit und des Lebens ihrer Angehörigen alles in allem besonnen stellt, verdient Anerkennung. In den Reihen der Schutz- und Sicherheitsorgane unseres Staates leisten viele ihren Ehrendienst, viele junge Männer - Söhne von Müttern und Vätern wie andere auch. Sie alle also, junge Menschen auf beiden Seiten, hatten in dieser Form erstmals und unverhofft ausgebrochene Widersprüche in unserer Gesellschaft zu bewältigen. Das sollten wir bedenken. Niemand sollte sich von dem Streben nach Vergeltung leiten lassen, wohl aber sollten wir den festen Vorsatz haben, durch alle Formen des Dialogs auszuschließen, dass es erneut zu solchen Vorgängen kommt. (Starker Beifall)

Die Demonstrationen mögen ihre Funktion gehabt haben, aber unsere Gesellschaft, und da schließe ich alle ihre Mitglieder ein, braucht heute weniger denn je die Konfrontation ihrer Bürger, sondern mehr denn je den sachlichen Dialog über die gegensätzlichen Ideen und Meinungen. Das haben Beispiele der letzten Tage bewiesen. Dafür tragen alle Verantwortung. Es bleibt unser erklärter Wille, und das will ich von dieser Tribüne noch einmal erklären, politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen. (Beifall)

DDR ist sich der Verantwortung für die europäische Sicherheit bewusst

Die Entwicklung unseres Landes verläuft bei offener Diskussion und besonnenen konstruktiven Schritten in Richtung Erneuerung unter Beachtung sinnvoller Kontinuität. Das setzt die Maßstäbe für die Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED und die in Gang gekommene Volksaussprache. Gemeinsam haben wir genau abzuwägen, wo neue Schritte und Reformen notwendig sind, um die Triebkräfte unserer Gesellschaft noch stärker freizusetzen, und wo es gilt, vorhandene Strukturen lebendiger auszufüllen und effektiver zu nutzen.

An der Trennlinie der beiden Gesellschaftssysteme entstanden, ist sich die Deutsche Demokratische Republik ihrer Verantwortung für die europäische Sicherheit voll bewusst. Die Stabilität in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten ist eine grundlegende Voraussetzung für die Stabilität des europäischen Kontinents. Die DDR wird wie bisher konsequent und aktiv für Frieden, Abrüstung und gleichberechtigte, gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit mit allen Staaten wirken. Wir bekennen uns zum weiteren Ausbau der Beziehungen zur BRD auf der Basis des Grundlagenvertrages und sind bereit, die Zusammenarbeit in den unterschiedlichen Bereichen auf eine höhere Stufe zu heben, wie das im gemeinsamen Kommuniqué vom September 1987 vereinbart worden ist. Was Berlin (West) anbetrifft, so sind wir daran interessiert, das Erreichte auszubauen und weiterzuführen.

Frieden zu sichern bleibt der erste Grundsatz unserer Politik

Im Herzen Europas gelegen und als sozialistischer deutscher Friedensstaat gewachsen, bekennt sich die Deutsche Demokratische Republik zu allen Prinzipien des KSZE-Prozesses, einschließlich der in ihnen verankerten Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen. Das neue politische Denken hat dem Prozess der Abrüstung und Entspannung in der Welt entscheidende Impulse gegeben. Die Völker der Erde, die Staaten des europäischen Kontinents können sich weiter ganz darauf verlassen, dass die Deutsche Demokratische Republik zu jeder konstruktiven Zusammenarbeit bereit ist, wo es um Sicherheit und Stabilität in den internationalen Beziehungen geht. Dazu zählen wir unsere Pflicht, alles, aber auch alles zu tun, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht. Günstige äußere Bedingungen, das heißt, den Frieden für die heute Lebenden und die künftigen Generationen zu sichern, bleibt der oberste Grundsatz unserer Politik. (Lebhafter Beifall) Für das Gedeihen der Idee vom gemeinsamen europäischen Haus bedarf es einer berechenbaren Politik aller dafür verantwortlichen politischen Kräfte. Einmischung m die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, mit Frieden und Sicherheit unvereinbar.

Niemand sollte aus der politischen Entwicklung in der DDR falsche Schlussfolgerungen Die Deutsche Demokratische Republik ist ein souveräner sozialistischer Staat, und alles, was hier geschieht, unterliegt der souveränen Entscheidung unseres Landes und seiner Bürger. (Beifall) NATO-Konzeptionen und "Ratschläge", die den Sozialismus bei uns wegreformieren wollen, haben auch künftig keine Chance! (Beifall)

Verehrte Abgeordnete Lassen Sie mich abschließend noch einmal versichern, dass ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, um dem mir übertragenen gesellschaftlichen Auftrag gerecht zu werden. In der aufrichtigen und schöpferischen Zusammenarbeit mit Ihnen und allen zur Verantwortung für unser sozialistisches Vaterland bereiten Kräften wird dies - davon bin ich fest überzeugt - gelingen. Für unser demokratisches Gemeinschaftswerk im Sozialismus und für den Sozialismus, mit allen Bürgern für alle Bürger wünsche ich uns allen gemeinsam Erfolg. Ich danke Ihnen. (Starker, anhaltender Beifall)

Neues Deutschland, Mi. 25.10.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 251

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