Die Tagung hatte mit fünfzigminütiger Verspätung wegen kurzfristig notwendiger Fraktionszusammenkünfte und einer zusätzlichen Präsidiumsberatung begonnen. Gleich zu Beginn der Parlamentsdebatte musste die gerade erst vorliegende Tagesordnung auf Antrag der FDJ-Fraktion wiederum geändert werden. Von verschiedenen Fraktionen eingebrachte Mandatsveränderungsanträge sollten demnach als erster Tagesordnungspunkt verhandelt werden, um den nachrückenden Nachfolgekandidaten für das Hohe Haus schon für diese Debatte Stimmrecht einzuräumen.
Kontrovers wurde anschließend auch ein Antrag der CDU-Fraktion diskutiert, in dem es um die zusätzliche Streichung der Passage "der Arbeiter und Bauern" im neu zufassenden Artikel 1 der Verfassung der Republik ging. Diesem CDU-Antrag folgten nur 112 der Abgeordneten, 20 enthielten sich der Stimme.
In erster Lesung beschäftigten sich dann die Abgeordneten mit dem neu gefassten Reisegesetz-Entwurf. Innenminister Ahrendt begründete den inzwischen der Öffentlichkeit bekannten Entwurf und antwortete auf Fragen der Parlamentarier. Um Drogenmissbrauch. neofaschistische Tendenzen sowie Währungsspekulationen abwehren zu können, sei u. a. Kontakt mit entsprechenden Stellen in der BRD und WestberIin aufzunehmen. Hier müssten gemeinsame Maßnahmen zur Bekämpfung geschaffen werden.
Weitere Wortmeldungen befassten sich u. a. mit der Finanzierung von privaten Auslandsreisen, hier bat Finanzministerin Nickel um drei Wochen Zeit zur Klärung dieser Frage. Der Entwurf des Reisegesetzes wurde an die zuständigen Volkskammerausschüsse übergeben. Mehrere Abgeordnete forderten, die zweite Lesung so rechtzeitig im Parlament anzusetzen, dass das Gesetz noch zum 1. Januar des folgenden Jahres in Kraft treten kann.
Schriftliche Begründungen lagen den Parlamentariern zu Gesetzesvorlagen zu Verträgen in Zivil- und Strafsachen zwischen der DDR und Tunesien sowie China vor, so dass deren Verabschiedung schnell erledigt war.
Anschließend teilte Kammerpräsident Maleuda mit, dass dem Hohen Haus täglich viele Zuschriften von Bürgern, Kollektiven und Betrieben zugehen. Darin werde der Wille deutlich, an der gesellschaftlichen Erneuerung mitzuwirken. Viele darin geäußerten Anliegen gehörten in die Verantwortung der Regierung sowie anderer staatlicher und wirtschaftlicher Organe. Das Präsidium bat sich im Interesse einer sachkundigen und beschleunigten Bearbeitung direkt an die zuständigen Stellen zu wenden. Maleuda schlug dann den Abgeordneten vor, sich dem Appell "Für unser Land" anzuschließen.
Die Erörterung aktueller Fragen war der nächste Tagesordnungspunkt der Volkskammersitzung. Fragen der Abgeordneten beantworteten die Mitglieder des neuen Kabinetts Modrow. Dabei mussten sie teilweise versuchen, mit den Trümmerbergen, die ihre Amtsvorgänger hinterlassen hatten, fertig zu werden. Kassationsverfahren zur Rehabilitierung von Bürgern, die aus politischen Gründen in den Jahren 1953 bis 1958 verurteilt worden waren, forderte der CDU-Abgeordnete Dr. Toeplitz. Der Präsident des Obersten Gerichts war darauf nicht vorbereitet und wird später einen Bericht erstatten. Für eine neu geregelte gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung an den Hoch- und Fachschulen sei ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens notwendig, erklärte Bildungsminister Emons auf Anfrage. Zur Definition dieser Ausbildung benötige man noch bis zum Frühjahrssemester. Zur Arbeit des Nationalrates der Nationalen Front erklärte dessen Präsident Prof. Kolditz, dass dieser in Zukunft nicht mehr notwendig sei. Jetzt müssten in den Städten und Gemeinden Bürgerkomitees gebildet werden, die sich der wichtigen Aufgaben vor Ort annehmen sollten.
Welche Vorstellungen die Regierung bisher zur internationalen ökonomischen Zusammenarbeit habe, erläuterte die stellvertretende Ministerratsvorsitzende Prof. Luft. Es werde ein Grundsatzbeschluss zu Gemeinschaftsunternehmen gemeinsam mit einem Investitionsschutzabkommen erarbeitet. Beides werde in der kommenden Woche beraten. Im Zusammenhang mit der geforderten Wiederherstellung einer normalen Relation des Lohngefüges erklärte die Ministerin für Arbeit und Löhne, Mensch, dass die Reform der Leistungs- und Lohnpolitik Bestandteil der Wirtschaftsreform sein müsse. Die Einführung von Produktivlöhnen soll bis 1992 abgeschlossen sein.
Prof. Ardenne (Kulturbund) beunruhige, so sagte er in der Debatte, dass erst wenige Konturen einer Konzeption zur Wirtschaftsveränderung im Ministerrat erkennbar seien. Da er eine erschreckende Resistenz des alten Apparates gegenüber den neuen Ministern beobachte, müssten diese jetzt energisch aufräumen. Außerdem unterstützte er im Zuge einer Verwaltungsreform die Gliederung der Republik in Länder.
Darüber, so der stellvertretende Ministerpräsident Moreth, werde zur Zeit intensiv nachgedacht. Er regte die Schaffung eines Städte- und Gemeindetages an.
Als unterschiedlich bei verschiedenen Warengruppen charakterisierte Handelsminister Flegel die Vorbereitung auf die Festtagsversorgung. Günstig sei die Lage bei Südfrüchten, Schokoladenprodukten und anderen Waren. Probleme gebe es bei hochwertigen Industriewaren. Hier seien in letzter Zeit hohe Abkäufe zu verzeichnen. Er führte das auf Bedenken der Bevölkerung hinsichtlich, der Stabilität der DDR-Währung zurück. Entlastung solle durch Warenfonds geschaffen werden, die für den Export noch nicht gebunden seien. Witterungsbedingt seien im zurückliegenden Jahr 30 000 Tonnen Rohgemüse nicht produziert worden. Es würden im kommenden ersten Halbjahr entsprechende Konserven aus dem sozialistischen Ausland eingeführt werden.
Auf Anfrage bestätigte Leichtindustrieminister Halm, dass 2,7 Millionen Stück Oberbekleidung bisher nicht produziert bzw. ausgeliefert wurden. Ursachen seien fehlende Arbeitskräfte, Mangel an Material und Ersatzteile. Auch beabsichtigte Importe würden diese Lücke nicht füllen. Zum gegenwärtigen Stand der Erarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1990 erklärte der Plankommissionsvorsitzende Schürer, dass er noch nicht in dem Stadium sei, wo er der Volkskammer vorgelegt werden könne. Bisher lägen 216 Anträge auf Plansenkung vor. Hier müssten Korrekturen erfolgen. Weiter fehlen durch den Weggang vieler ehemaliger Mitbürger exakte Zahlen über die Arbeitskräftelage. Es seien Sofortmaßnahmen geplant, die den Plananlauf für das 1. Quartal sichern.
Unruhe ergriff die Parlamentarier, als ihnen der Zwischenbericht der zeitweiligen Kommission zur Untersuchung von Korruption und Machtmissbrauch vorgetragen wurde.
Von unseren Berichterstattern A. Knack und R. Stephan
(Berliner Zeitung, Sa. 02.12.1989)