Am Sonnabend beschloss die 12. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes in Berlin den Rücktritt des gesamten Bundesvorstandes und des bisher von Annelis Kimmel geleiteten Arbeitssekretariats. Dies wurde auf der Tagung von Gewerkschaftern des VEB Bergmann-Borsig, des Kabelwerkes Oberspree und weiteren Vertretern von Gewerkschaftsleitungen gefordert. Es wurde beschlossen, für den 30. Januar und 1. Februar einen außerordentlichen Gewerkschaftskongress für eine grundlegende Erneuerung des FDGB als Gewerkschaftsbund freier und unabhängiger Industriegewerkschaften und Gewerkschaften in der DDR einzuberufen. Aus der Satzung wurde die Formulierung der führenden Rolle der Partei gestrichen.
Eine Kommission von 32 Gewerkschaftern, die von Mitgliedern sowie von verschiedenen Leitungen in Kreisen und Bezirken dazu beauftragt wurde, übernahm die Kongressvorbereitung. Sie steht unter Leitung des Vorsitzenden des Zentralvorstandes der IG Druck und Papier, Werner Peplowski.
Von der Basis gebildete Arbeitsgruppen für die Ausarbeitung einer neuen Satzung, für Anfragen und Vorschläge, für eine Redaktionskommission - usw. werden sie dabei unterstützen.
Die Mitglieder des bisherigen Bundesvorstandes und ihres Präsidiums wurden zu schonungsloser Rechenschaft auf dem Kongress verpflichtet. Auf dem Kongress geht es um die Rettung des FDGB zur Wahrung der Rechte der Gewerkschafter einschließlich ihres Rechts auf Beteiligung an der Arbeit demokratischer Gremien der Republik wie der Volkskammer, den örtlichen Volksvertretungen und dem Runden Tisch.
In einer Erklärung wendet sich die Vorbereitungskommission an alle FDGB-Mitglieder. Als Ursache der bisher abwartenden Haltung des FDGB wird die widersprüchliche Einordnung der Gewerkschaften in das zentralisierte System des bisherigen Sozialismus bezeichnet. Jetzt geht es um eine Neuprofilierung von der Basis aus. Es sollen unverzüglich Leitungen und Vorstände in freien und geheimen Wahlen gewählt werden, die den Schutz und die Interessen aller Mitglieder gewährleisten.
Industriegewerkschaften und Gewerkschaften werden selbständig arbeiten und Finanzhoheit erhalten. Die Koordinierung ihres Wirkens übernimmt ein FDGB-Dachverband, der nur über einen kleinen Apparat auf zentraler, Bezirks- und Kreisebene verfügen soll. Die Industriegewerkschaften und Gewerkschaften erarbeiten auf der Grundlage einer neuen Satzung eigene Statuten.
Bis zum 15. Dezember wird der Standpunkt des FDGB zu einem Gewerkschaftsgesetz ausgearbeitet, das die rechtswirksame Interessenvertretung einschließlich der Anwendung gewerkschaftlicher Kampfmittel und den Schutz aller gewählten Gewerkschaftsvertreter sichern soll.
Als Sofortmaßnahmen wurden beschlossen:
Die entschiedene Aufdeckung von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung sowie die Bestrafung der dafür Verantwortlichen in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei. Es ist Klarheit über die Finanzlage des Bundesvorstandes einschließlich der Devisen und des Solidaritätsfonds zu schaffen.
Eine neue Beitragsordnung gilt im Januar bis zum Kongress. Vorschläge für die Finanzhoheit der IG und Gewerkschaften sind auszuarbeiten. Die aktive Mitarbeit der Gewerkschaftsvertreter am Runden Tisch auf allen Ebenen für den Prozess der Erneuerung ist zu sichern. Geheime und demokratische Wahlen der Delegierten zum außerordentlichen Kongress. sowie die Ausarbeitung der Beschlussvorlagen und Dokumente beginnen unverzüglich. Durch Veröffentlichungen sind die Mitglieder davon zu informieren.
In einem Pressegespräch nach der Tagung erläuterten Werner Peplowski, Hartwig Bugiel, Vorsitzender des Zentralvorstandes der IG Metall und Rainer Schramm, BGL-Vorsitzender im VEB Elektrokohle Berlin, nähere Einzelheiten des sofortigen Arbeitsbeginns des Komitees. Sie erklärten, dass die Gewerkschaft künftig mit Bedingungen zu rechnen habe, "die wir noch nicht kennen". Alle IG und Gewerkschaften seien unverzüglich so zu stärken, dass sie ihre Schutzfunktion, die Tarifautonomie und die Finanzhoheit wahrnehmen können. Es gelte, alle alten Strukturen restlos zu beseitigen und die Arbeitsfähigkeit jeder BGL herzustellen. "Bevor das Kapital über Joint ventures und ähnliche Formen in unsere Betriebe kommt, müssen wir da sein", erklärte Hartwig Bugiel. Er kündigte an, dass in diesem Zusammenhang auch Kontakt mit dem IG-Metall-Vorsitzenden der BRD, Steinkühler, aufgenommen werde.
Zu Beginn der 12. Tagung rechnete Annelis Kimmel schonungslos mit den Praktiken jener Leitungsmitglieder ab, die sich des Amtsmissbrauchs und der Korruption schuldig gemacht haben. Alle FDGB-Auszeichnungen für solche Personen sind aufgehoben, und Mittel, die ungerechtfertigt aus Gewerkschaftsgeldern entnommen wurden, werden zurückgefordert. Das gilt auch für die 50 Millionen Mark für das FDJ-Festival, die der FDGB noch nicht zurückerhalten hat. Alle Sonderheime der bislang führenden Personen sowie Import-PKW der Sekretäre des Bundesvorstandes werden verkauft. Künftig werde halbjährlich eine sorgfältige Finanzrevision aller Mittel des FDGB erfolgen und darüber Rechenschaft abgelegt. Es dürfe jetzt keine kollektive Verurteilung der vielen ehrlich gebliebenen FDGB-Funktionäre zugelassen werden, die mit dem Machtmissbrauch von Tisch nichts zu tun haben. Die künftige Struktur des FDGB müsse für immer verhindern, dass sich solche verbrecherischen Praktiken wiederholen können.
(Neues Deutschland, Mo. 11.12.1989)