Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete Schulz.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Da wir unsere Redezeit nicht an einem Stück nehmen dürfen, muss ich diese fünf Minuten so noch einmal ausschöpfen. Herr Biedenkopf hat uns ein Beispiel dafür geboten, wie man offensichtlich durch gute Wahlergebnisse oder absoluten Mehrheit auch alle Sachfragen beantworten kann. Da gibt es dann keinerlei Differenzierung mehr. Natürlich hat er Recht, wenn er sagt, dass der Zusammenbruch im Osten zum Teil dadurch bedingt war, dass diese Wirtschaft vom Weltmarkt abgeschirmt war und dem plötzlichen Druck und Schock nicht standhalten konnte. Die Einbindung in die Wirtschafts- und Währungsunion verursachte natürlich einen Anpassungsschock ohne jegliche Therapie. Hier wurden alle kundigen Expertenmeinungen unterschlagen und nicht beachtet. Zum Beispiel hat Hans Karl Schneider - er war der Vorsitzende des Sachverständigenrates - im Frühjahr 1990 der Bundesregierung in seinem Gutachten vorgeschlagen, dies nicht zu tun, weil es zum Zusammenbruch einer ganzen Wirtschaft führen würde, die dann dauerhaft alimentiert werden müsste. Das ist ebenfalls zu beachten; dies sollte man mit aufführen.

Der Kanzler spricht heute pauschal davon, dass er Fehler gemacht hat. Ein weiterer Satz wird sich niemals anschließen. Man wird von ihm nie im einzelnen hören können, welche Fehler er konkret gemacht hat.

Kurt Biedenkopf hat mittlerweile alles vergessen. Ich habe ihn zufälligerweise noch im Herbst 1990 bei seinen Wahlkampfauftritten gehört, wo er den Leuten versprochen hat, dass sie Anteile vom Volkseigentum bekommen. Das hat ein Mann gesagt, der nun wirklich nicht behaupten kann, dass er die Situation nicht einschätzen konnte. Er war noch im Frühjahr 1990 als Professor an die Leipziger Universität geeilt, um den Leuten zu helfen, Marktwirtschaft zu begreifen. Offensichtlich hat er sich getäuscht.

(Zuruf des Abg. Arno Schmidt [Dresden] [F.D.P.])

- Herr Schmidt, das ist doch die Wahrheit. Er kann sich doch heute nicht hier hinstellen und sagen: Ich, Professor Biedenkopf, allwissend, habe das damals alles klar gesehen. 1990 hat er den Leuten für 53,8 % versprochen, dass sie etwas von ihrem Volkseigentum bekommen. Er hat auf das Kurzzeitgedächtnis dieser Leute gesetzt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es hat ihn diesmal keiner gefragt: Wo ist denn unser Volkseigentum geblieben? Ich glaube aber, diese Fragen sind zu stellen.

(Georg Gallus [F.D.P.]: Schulden!)

- Ach, Herr Gallus, nein! Regen Sie sich doch nicht mehr so auf! Ist dies ihr letzter Tag im Parlament? - Ach nein, machen Sie einen ruhigen Ausklang. Trinken Sie noch einmal einen Schluck Wasser; ich gebe Ihnen etwas ab. Regen Sie sich nicht so auf!

(Zuruf von der F.D.P.: Das ist billige Polemik! - Georg Gallus [F.D.P.]: Wenn einem Wirtschaftspolitiker nichts mehr einfällt, dann redet er so daher!)

- Nein, ich will Ihnen das weiter erklären. Wenn Sie nicht so dazwischen schreien würden, würden Sie heute auch noch etwas mitnehmen.

Wenn man 9 000 Betriebe gleichzeitig zur Privatisierung anbietet, Herr Gallus, dann tritt ein Effekt ein, den jeder Marktwirtschaftler so beschreibt, dass es dafür keine ausreichende Nachfrage gibt. Das ist der sogenannte Wühltruhen-und-Ramschkisten-Effekt, oder wie Sie es auch immer nennen wollen. Die Ware wird, wenn überhaupt, unter ihrem Wert verkauft. Das ist doch das Problem: Viele sind gar nicht verkauft worden. Viele Treuhandbetriebe haben viele Jahre in einem ganz gefährlichen Schwebezustand existiert, in dem sie nicht wussten: Werden sie überhaupt verkauft? Was wird überhaupt aus uns? Das ist wie mit einem Haus, wo der Eigentümer heutzutage noch nicht feststeht. Es wird nicht eine müde Mark investiert, weil man nicht weiß, wie es weitergeht. Diese Betriebe haben ihren Absatz, auch ihre Aktivitäten verloren. Das müssen wir fairerweise dazusagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will zumindest eines noch festhalten, weil es für die Geschichte und auch für ihre Aufarbeitung sehr wichtig ist: Herr Ministerpräsident Biedenkopf hat gesagt, er habe die Unterlagen immer rechtzeitig bekommen - Sie konnten das gründlich kontrollieren - und sie in seinem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, auch in den Treuhandkabinetten prüfen lassen, sei dann nach Berlin gefahren und habe dort sachkundige Entscheidungen getroffen.

Wir wissen - das ist eine merkwürdige Diskrepanz -, dass die Abteilung VIII des Finanzministeriums von Herrn Waigel zumindest im Jahre 1992 festgestellt hat, dass die Fünf-Tage-Frist zwischen Versendung der Unterlagen und Sitzungstag für eine fundierte Prüfung zu kurz ist. Es ist natürlich komisch, wieso die Abteilung VIII des Finanzministeriums dies nicht fundiert prüfen konnte, Herr Biedenkopf dies aber tun konnte. Der hatte alles rechtzeitig und konnte alles machen. Komischerweise ist ihm nicht aufgefallen, dass das Chemiewerk Eilenburg betrügerisch privatisiert worden ist und heute vor dem Bankrott steht. Wir werden noch weitere solcher Beispiele erleben - auch Herr Thalheim hat das gesagt -, wo doch sehr schlampig privatisiert worden ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Machen wir uns nichts vor - ich möchte dies noch abschließend sagen-: Ich glaube, die Sanierungsaufgabe, Herr Gallus, ist deswegen nicht erledigt worden, weil man von westdeutscher Seite verhindert hat, dass mit Steuermitteln ostdeutsche Betriebe aufgepäppelt werden, die dann westdeutschen Unternehmen auf den gleichen Märkten Paroli bieten könnten. Auch das ist Wettbewerb gewesen, an dieser Stelle aber sehr unfairer Wettbewerb.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht 243. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 21. September 1994

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