Sozialismus und Demokratie

Der "Prager Frühling" - ein Versuch, den Teufelskreis des Stalinismus zu durchbrechen

Von Prof. Dr. Robert Havemann (1910-1982)

Den vorliegenden Text schrieb Robert Havemann im Frühjahr 1968 während des "Prager Frühlings". Er begründet darin, dass es ohne Demokratie keinen Sozialismus geben kann. Liest man manches in diesem Beitrag auch mit dem Abstand von mehr als zwanzig Jahren, so ist er doch höchst aktuell. Denn das gesellschaftliche System des Stalinismus. das demokratische Bewegungen immer wieder erstickt hat, ist bis heute nicht überwunden. Havemanns Artikel, den wir als historischen Beleg konsequent marxistischen Denkens eines deutschen Kommunisten verstehen, erschien 1968 erstmals in der tschechoslowakischen Zeitschrift "Svet v Obrazech".

Sozialisten und Kommunisten in aller Welt verfolgten heute mit wärmster Sympathie und von großen Hoffnungen erfüllt die politische Entwicklung in der ČSSR. Was hier geschieht, wird nicht nur für die Zukunft dieses Landes von entscheidender Bedeutung sein, sondern es wird weltweite Rückwirkungen zeitigen und tut dies schon heute. Zum ersten Mal wird hier der Versuch gemacht, Sozialismus und Demokratie in Übereinstimmung zu bringen. Bisher gab es in sozialistischen Ländern wohl verschiedene Ansätze, den Teufelskreis des Stalinismus durch eine Art schleichender Demokratisierung zu durchbrechen. Aber das Bleigewicht der Parteibürokratie hat die wenigen hoffnungsvollen Versuche stets wieder gelähmt und zum Stillstand gebracht.

In der ČSSR erleben wir heute den grandiosen Versuch eines radikalen und kompromisslosen Durchbruchs zur sozialistischen Demokratie. Gelingt dieser Versuch, so wird dieser Erfolg von einer historischen Tragweite sein, die sich nur mit der der russischen Oktoberrevolution vergleichen lässt. Eins der Haupthindernisse für die weitere Umwälzung vom Kapitalismus zum Sozialismus wird dann beseitigt sein: die tief deprimierende Erfahrung der vergangenen Etappe der Weltrevolution nämlich, dass Demokratie nur unter den Bedingungen des bürgerlichen Kapitalismus möglich, aber mit dem System des Sozialismus unvereinbar sei.

Man fragt sich: War der bittere und opferreiche Gang der Entwicklung der Revolution In den vergangenen Jahrzehnten wirklich unvermeidlich, oder war er nur die tragische Auswirkung des Handelns einzelner in Irrtümern befangener Personen, etwa Stalins? Ich glaube, er war weder das eine noch das andere. Eine unvermeidliche, zwangsläufige Entwicklung der Geschichte gibt es nicht. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, allerdings meist schlechter. als möglich wäre. Trotzdem ist es notwendig, auch für den Gang dieser schlechten Entwicklung das gebührende Verständnis aufzubringen.

Die russische Revolution siegte in einem äußerst rückständigen feudalen Lande, das die bürgerliche Demokratie fast nur vom Hörensagen kannte. Die Revolution war für Jahrzehnte, im Grunde noch bis 1950, von innen und von außen bedroht. Die innere Bedrohung resultierte aus dem unlösbaren Widerspruch zwischen den durch die Revolution geschaffenen sozialistischen Produktionsverhältnissen und den besonders zu Anfang fast hoffnungslos rückständigen Produktivkräften. Die äußere Bedrohung fand ihren Höhepunkt im zweiten Weltkrieg und dauerte nach dem Krieg noch wenigstens solange an, bis das nukleare Gleichgewicht des Schreckens hergestellt war. Die KPdSU und die sowjetischen Arbeiter haben zur Überwindung dieser doppelten Bedrohung schwerste Opfer gebracht und Unvergleichbares geleistet. Ohne die Sowjetunion und ohne ihren Sieg über Hitler-Deutschland würden wir alle heute unter der Knute des deutschen Faschismus schmachten, der sich mit dem US-Imperialismus in die Beherrschung der Welt teilen würde. Das sind die großen und bewundernswerten Verdienste der Sowjetunion für die Revolution. Heute existiert in der Sowjetunion eine große Industrie.

Der ursprüngliche Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und dem Stand der Entwicklung der Produktivkräfte ist weitgehend überwunden. Damit ist auch dort die Entwicklung an dem Punkt angelangt, wo der in der Vergangenheit entstandene stalinistische Überbau durch einen modernen demokratischen Überbau ersetzt werden kann und ersetzt werden muss. Das Gleiche gilt heute für alle anderen sozialistischen Staaten, in denen der stalinistische Überbau immer mehr zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte geworden ist.

Der Stalinismus ist das System des Misstrauens und der Heuchelei, die Demokratie das des Vertrauens und der freien und kritischen Meinungsäußerung. Im Stalinismus hat der Staat die Bürger, in der Demokratie haben die Bürger den Staat Die Demokratie war die große Errungenschaft der bürgerlichen Revolution. Sie kann im Sozialismus nur in einem dialektischen Sinne aufgehoben werden, nämlich aufgehoben im Sinne von aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben und auch Überwunden, nämlich in ihrer unvollkommenen und ungenügenden Form, die aus dem Fortbestehen der Ausbeutung im Kapitalismus resultiert und im Spätkapitalismus zur Aushöhlung und Entartung der Demokratie führt.

Die wirtschaftliche Macht der Konzerne über die Massenmedien und die "repressive Toleranz des Establishments" haben durch Beseitigung der Freiheit der Meinungsbildung die der Form, nach fortbestehende Freiheit der Meinungsäußerung zur Farce gemacht. Die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte sind in vielen Ländern bereits aus den Parlamenten verdrängt. Sie führen ihren Kampf in den Gewerkschaften und als außerparlamentarische Opposition. Ihre Lage ist eigenartig und von der unsrigen grundverschieden. Sie sind zwar auch die eigentlichen Verfechter der Demokratie gegenüber dem autoritären System der manipulierten Gesellschaft. Aber sie kämpfen nicht für die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb dieser Gesellschaft, sondern enthüllen durch ihren Kampf das autoritäre Wesen des spätkapitalistischen Parlamentarismus. Ihr Ziel ist die Umwälzung der Gesellschaft, wodurch erst die Voraussetzungen für eine echte Demokratie geschaffen werden sollen.

Wir hingegen haben diese Umwälzung auf eine merkwürdig anachronistische Weise längst hinter uns gebracht. Aber die tödlichen Gefahren, die unsre Revolution bedrohten, haben uns dann um ihre Früchte gebracht, nämlich um die Lösung der eigentlichen Aufgabe, um die Errichtung der sozialistischen Demokratie.

"Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden." Diese Worte Rosa Luxemburgs haben eine brennende Aktualität erlangt. Wir vernehmen sie heute von vielen Seiten, ermutigend, aber auch mahnend, ja sogar zweifelnd. Wird die sozialistische Demokratie ohne jede Einschränkung der Freiheit von Andersdenkenden auskommen? Genosse Ernst Fischer sagt, dass die notwendige Einschränkung dieser Freiheit sich zu richten hat gegen den Antisemitismus und überhaupt gegen jede Form des Rassismus und des Völkerhasses, gegen den Faschismus und gegen die Verherrlichung des Krieges als eines Mittels zur Lösung politischer Probleme. Ich glaube, diese Rudimente einer barbarischen Ideologie haben samt und sonders in einem sozialistischen Lande keine Wurzeln mehr. Ihre Ablehnung ist daher weniger eine Aufgabe staatlicher Anordnungen. Sie ist einfach Wesensbestandteil der sozialistischen Gesellschaftsmoral. Leute, die diesen Ideen noch anhängen, sind eigentlich nicht mehr Objekte der Gerichte, sondern gehören vor den Psychiater.

Gerade in der nicht administrativen Erledigung dieser Art des Andersdenkens erweist sich die Überlegenheit der sozialistischen Demokratie. Wenn wir Rassismus und Faschismus, soziale Ungleichheit und Ausbeutung ablehnen, schränken wir gar keine Freiheit von Andersdenkenden ein. Hier wird im Gegenteil Freiheit durch Einsicht in die Notwendigkeit gewonnen und bedarf dann keines Zwanges mehr. Wie leicht könnte sonst eine partielle Einschränkung der Freiheit Andersdenkender zum Vorwand genommen werden, immer mehr demokratische Freiheiten schrittweise wieder aufzuheben, nachdem man sie im Grundsatz deklariert hat.

In der sozialistischen Demokratie sind alle Rechte und Freiheiten in Kraft, die in der bürgerlichen Demokratie gewonnen wurden. Aber das für den Kapitalismus charakteristische Vorrecht, das diejenigen genießen, die über Kapital verfügen, ist endgültig beseitigt. Damit wird erst die wirkliche Gleichheit aller Bürger ermöglicht. Die sozialistische Demokratie ist deshalb von Grund auf stärker, reicher und freier, als es die bürgerliche Demokratie überhaupt sein kann.

Entscheidend für die Demokratie ist die demokratische Kontrolle der Regierung von unten. Dies bedeutet das Recht auf Opposition, sowohl in der Öffentlichkeit, in der Presse, Funk und Fernsehen wie auch im Parlament und den Volksvertretungen, deren durch freie und geheime Wahlen bestimmt sind. Dies bedeutet auch die Unabhängigkeit der Richter und die Einrichtung von Verwaltungsgerichten, vor denen der Bürger gegen behördliche Willkür Klage erheben kann. bedeutet eben, dass das Regieren schwerer und das Regiert werden leichter wird. Beides ist sehr nützlich.

"Sozialismus ist Demokratie" dies große Wort muss wahr gemacht werden. Das ist heute angesichts der erregenden Entwicklung in der ČSSR unsere leidenschaftliche Hoffnung. Wir deutschen Sozialisten und Kommunisten führen einen schweren Kampf. In der westdeutschen Bundesrepublik hat sich ein wirtschaftlich äußerst leistungsstarker spätkapitalistischer Staat restauriert. Er erweckt bei vielen mit Erfolg den Eindruck, er sei freiheitlich und demokratisch. Wir in der DDR haben mit großen Mühen und auch mit erheblichen Erfolgen unsere Wirtschaft aufgebaut und Industrie und Landwirtschaft auf guten Stand gebracht. Ich glaube, dass die Lösung der deutschen Frage im Sinne von Sozialismus und Demokratie fast unvorstellbar erleichtert und beschleunigt würde, wenn der Weg, den die ČSSR jetzt eingeschlagen hat, auch, bei uns beschritten wird.

Nichts hat ja den Kampf der Sozialisten und Kommunisten in den kapitalistischen Ländern mehr gelähmt und behindert, als die Formen des stalinistischen und bürokratischen Sozialismus in den sozialistischen Ländern. Dieser fatale Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hat die Sache des Sozialismus diskreditiert. Wenn aber in der ČSSR bewiesen werden wird, dass Sozialismus und Demokratie nicht nur miteinander vereinbar, sondern sind, wenn bewiesen wird, dass wahre Demokratie nur im Sozialismus wirklich vollendet werden kann, dann wird die lähmende Enttäuschung weichen. Die revolutionäre Jugend der Welt wird wieder ein Ziel vor Augen haben, das frei ist von dunklen Schatten.

Prof. Dr. Robert Havemann, Antifaschist, Todeszelle im Zuchthaus Brandenburg, Physiker, Volkskammer abgeordneter des Kulturbundes. Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1965 aus der SED ausgeschlossen wegen öffentlicher Kritik am Stalinismus in der DDR, 1966 Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften, ab 1976 weitgehende Isolation in seinem Haus in Grünheide. Verschiedene politische Kräfte haben inzwischen seine Rehabilitierung gefordert.

aus: Berliner Zeitung, 09.12.1989, Jahrgang 45, Ausgabe 290

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