"Das wird sehr bunt sein müssen"

Pfarrer Rainer Eppelmann, Mitbegründer des "Demokratischen Aufbruchs", über Situation und Perspektiven der DDR-Opposition

taz: Sehen Sie im Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen die Konstituierung Ihrer Gruppe neue Anzeichen für einen repressiveren Kurs gegenüber der Opposition?

Rainer Eppelmann: Ich persönlich sehe einen solchen Kurswechsel nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Maßnahmen auf einer Fehlinformation der Staatssicherheit beruhten, die davon ausging, dass gestern die Plattform aller existierenden Gruppen in der DDR gegründet werden sollte. Dieses Treffen steht noch aus, während wir am Sonntag Abend trotz der Behinderungen die Gruppe "Demokratischer Aufbruch" gegründet haben.

Heißt das, dass die bisherigen Gründungsaktivitäten die staatliche Toleranzschwelle nicht überschreiten, dass aber der DDR-weite Koordinierungsversuch mit staatlichen Repressionsmaßnahmen rechnen muss?

Diesen Eindruck habe ich gegenwärtig, aber ich wage mich nicht dafür zu verbürgen, dass es tatsächlich so ist.

Der "Demokratische Aufbruch" ist ja schon in den letzten Tagen mit Äußerungen von Pfarrer Richter an die Öffentlichkeit getreten. Was war denn der Sinn des Treffens am Sonntag Abend?

Wir wollten einen endgültigen programmatischen Entwurf erstellen, der dann als inhaltliche Diskussionsgrundlage in die Gesellschaft gegeben werden kann. Wir wollten das mit einem möglichst weitgehenden programmatischen Ansatz tun und mit einer Geschäftsordnung, um verbindliche Zusammenarbeit zu erreichen und eine DDR-weite Struktur aufzubauen. Wir wollen außerhalb der Kirche arbeiten. In unserer Gruppe werden Marxisten vertreten sein, Liberale oder Christen über soziale Grenzen und Weltanschauungen hinweg.

Bleiben wir beim Programmatischen. Die bisherigen Äußerungen des "Demokratischen Aufbruchs" laufen auf eine dezidierte reformsozialistische Perspektive hinaus. Hat sich diese Orientierung bestätigt?

Wir sind bei unseren Grundorientierungen geblieben, das sagt zuerst einmal unser Name, da sind ja zwei inhaltliche Aussagen drin. Dazu kommen dann noch wichtige Stichworte: ökologisch, sozial, gewaltfrei. Der reformsozialistische Ansatz ist deshalb in unserer Programmatik inbegriffen, weil ein Teil unserer Gruppe, ehemalige Parteigenossen, ihr Mitwirken in unserer Gruppe davon abhängig gemacht haben, dass das Positive im Sozialismus nicht aufgegeben, sondern beerbt wird. Das ist in unserer Gruppe konsensfähig, aber es grenzt auch Leute aus, das ist uns klar. An diesem Punkt haben wir auch gemerkt, dass das, was uns wichtig ist, nicht alle zusammenführen kann und dass es gegenwärtig keine Gruppierung gibt, die programmatisch so weit gefasst ist, dass sich alle unter ihr zusammenfinden könnten. Das läuft auf eine Koalition hinaus, wo Unterschiede bestehen und man sich da zusammenfindet, wo man gemeinsam handeln kann.

In den letzten Wochen haben sich einige Gruppen gegründet, und es muss für mögliche Interessenten schon ziemlich schwer sein, die unterschiedlichen Ansätze auseinander zuhalten. Das sieht fast schon nach Verwirrungsstrategie aus.

Diese Gefahr sehen wir auch, dass eine ganze Menge Leute Schwierigkeiten haben werden, hier durchzublicken. Wir glauben aber dieses Risiko eingehen zu müssen, weil wir sehr unterschiedliche Menschen sind und weil wir endlich nach vierzig Jahren eingeübtem Gleichschritt den Menschen die Möglichkeit geben müssen, sich ihrer Art, ihren Vorstellungen und ihrer Neigung nach zu artikulieren. Das wird dann eben sehr bunt sein müssen. Wir wollten nicht zu einer Einheitsfront eine neue Einheitsfront dazusetzen. Allerdings wissen wir, um der Chance unserer Gesellschaft willen, dass wir an allen möglichen Stellen, wo es vertretbar ist, gemeinsam denken und handeln müssen.

Aber die Gefahr einer Zersplitterung haben Sie auch diskutiert?

Wir haben das diskutiert, und ich hoffe, dass wir dieser Gefahr entgehen, dass wir eine Vielfalt entwickeln, eingebettet in einer Einheit des Handelns.

Die Gruppe "Demokratie Jetzt" steht ihrer Initiative programmatisch recht nah. Warum war es dennoch notwendig, eine eigene Gruppierung ins Leben zu rufen?

In der Programmatik gibt es wirklich keine großen Unterschiede. Möglicherweise kann man sich auf ein noch engeres Zusammengehen einigen, das steht noch aus. Aber das, was uns im Augenblick deutlich von allen anderen Initiativen unterscheidet, ist der bewusste Versuch, mit festen, verbindlichen, demokratischen Strukturen zu arbeiten. Wären wir gestern nicht staatlicherseits daran gehindert worden, so hätten wir einen Sprecher beziehungsweise einen amtierenden Vorstand gewählt.

Sehen Sie in den momentanen oppositionellen Aktivitäten etwas qualitativ Neues im Vergleich zur bisherigen Praxis der Opposition seit Beginn der achtziger Jahre?

Was die neuen Gruppen alle gemeinsam haben und was sie von früheren Bestrebungen unterscheidet, ist der bewusste Versuch, den Raum der Kirche zu verlassen, um Leuten, die keine Christen sind, die Chance zu geben, da mitzuarbeiten, ohne dass sie den Eindruck haben, sie müssten irgendwelche glaubensmäßigen Vorleistungen erbringen. Alle sollen gleichberechtigte Partner sein, ohne irgendwelche ideologischen Vorleistungen. Das ist neu. Bei uns kommt noch hinzu: weg von der Spontaneität, hin zu Verbindlichkeit und festen Strukturen.

Das bedeutet aber nicht die Gründung einer Partei?

Das ist zur Zeit nicht möglich, aber daran haben wir gedacht. Wir wollen aber auf jeden Fall innerhalb der Legalität bleiben und uns nicht kriminalisieren lassen. Der "Demokratische Aufbruch" ist gestern vollzogen worden, und wir werden ab sofort arbeiten, einzelne Menschen, die überall eine Menge von Anhängern haben.

Wie sieht konkret Ihre Strategie der politischen Einflussnahme aus?

Wir wollen das über einen inhaltlichen Dialog tun, ausgehend von der Hoffnung, dass die Zahl derer im Staatsapparat und in den Massenorganisationen größer wird, die in einen Dialog über die drängenden Fragen auch mit den Andersdenkenden treten wollen. Die entscheidende Form der Einflussnahme ist der Dialog.

Aber diese Strategie ist darauf angewiesen, dass sich im Staat und den etablierten Institutionen etwas bewegt?

Wir sind der tiefen Überzeugung, dass die weitere Entwicklung der DDR über dieses Jahrtausend hinaus ohne die SED nicht zu denken ist. Wir sind uns aber darüber im klaren, dass das eine andere SED sein muss als die, die wir in den letzten Tagen und Wochen erleben. Der Veränderungsprozess hat bereits begonnen, und wir sind davon abhängig, wie schnell der sich entwickelt. Der Aufbruch des Volkes, der gegenwärtig stattfindet, ist erstaunlich. Die einen brechen in den Westen auf, und die anderen brechen in die Zivilcourage auf, in die Öffentlichkeit hier, und versuchen das Schicksal ihrer Gesellschaft stärker mitzubestimmen. Wenn wir klarmachen können, dass es uns um Dialog geht, um Machtteilung, nicht um Machtübernahme, dann wird auch in den etablierten Organisationen die Zahl derer kräftig wachsen, die an diesem Dialog teilnehmen.

Wenn Öffentlichkeit die entscheidende Voraussetzung einer gesellschaftlichen Reform darstellt - wie werden Sie die herzustellen versuchen?

Es gibt dafür inzwischen Freiräume, die noch vor fünf Jahren exotisch gewesen wären. Wir denken, dass das weitergehen wird. Gerade unsere Gespräche mit Parteigenossen bestärken uns in dieser Ansicht. Ich bin heute zum Beispiel in einem Betrieb gewesen, da gab es Wandzeitungen mit kritischen Anfragen an die Berichterstattung unserer Massenmedien. Da standen die Leute scharenweise und begeistert und lasen das durch, was noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre. Auch weit oben im Staatsapparat gibt es eine ganze Menge von Leuten, die wissen, dass es so mit unseren Massenmedien nicht weitergehen wird.

Die Gefahr, dass der Aufbruch der letzten Wochen auch wieder verebben könnte, sehen Sie nicht?

Wenn nur Resolutionen veröffentlicht werden, dann könnte das passieren. Aber mit inhaltlicher Arbeit und gemeinsamen Aktionen, glaube ich, kann man den Menschen in der DDR vermitteln, dass da tatsächlich etwas aufbricht.

Interview: Matthias Geis

aus: TAZ Nr. 2926 vom 03.10.1989

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