"Die Revolution entlässt ihre Väter"

Ein Gespräch mit Friedrich Schorlemmer, Pfarrer an der Schlosskirche zu Wittenberg und Mitbegründer vom "Demokratischen Aufbruch", vor kurzem zur SPD gewechselt

taz: Die Demonstranten haben den Intellektuellen der DDR die Führung der Opposition abgenommen. Die Basis der Bürgerbewegungen hat das "Neue Forum" und den "Demokratischen Aufbruch" nach rechts gedrängt. Sie als Mitgründer des "Aufbruchs" sind zur SPD übergetreten. Ist damit die Revolution zu Ende?

Friedrich Schorlemmer: Die Revolution entlässt jetzt ihre Väter. Die Intellektuellen haben gegenwärtig kaum eine Chance. Wer sich ins Gewühl begibt, der bezieht Prügel. Stefan Heym, Christoph Hein, die ziehen sich denn auch zurück, und Christa Wolf - die hält's nicht aus, ich mach ihr auch keinen Vorwurf, es ist ganz bitter. Ich denke, es ist noch nicht verloren, die sanfte und scharfe Stimme zu erheben. Das geht aber nur, wenn man die Emotionen der Leute bejaht und aufnimmt - wenn man klar sagt: nicht mit der SED. Das Volk hat sich Kürzel angeeignet. Das eine heißt: Keine neuen Experimente, vierzig Jahre Sozialismus sind genug, wir wollen nicht wieder Versuchskarnickel von irgendwelchen Intellektuellen sein. Diese Kürzel - andere sind Wiedervereinigung oder Marktwirtschaft - müssen eindeutig von jedem Verdacht frei sein, kommunistisch oder rot oder links zu sein. Das liegt aber daran, dass die Leute eben vierzig Jahre lang - lustlos - mit der SED gemeinsame Sache gemacht haben, und jetzt muss die Wut irgendwo hin. Ich sehe das auch als eine Form von Selbsthass an, der umgelenkt wird auf die SED, auf alle ihre Repräsentanten, alle Wörter und Symbole. Jeder hat jetzt Angst, von anderen denunziert zu werden als einer, der sich hier mit der SED gemein gemacht hat. Aber einen, der sich nicht mitschuldig gemacht hat, den gibt's gar nicht. Sie haben sich doch gefallen lassen, dass ihnen die SED das Maul gestopft hat, mit dem Intershop, dem bisschen Reisen, vor allem aber mit dem Fleisch. Es konnte ja auch Sindermann noch im Mai auf einer wissenschaftlichen Konferenz erzählen, der Sozialismus sei in der DDR nicht gescheitert, schließlich gebe es hier den niedrigsten Brotpreis und den höchsten Fleischkonsum.

Ist nicht die Folge dieser Polarisierung in Gut und Böse, dass weder die Vergangenheit aufgearbeitet wird noch klare Vorstellungen für die Zukunft entwickelt werden?

Das Volk will noch gar nicht konstruktiv sein, sondern will nur sichergehen, dass die nicht wiederkommen. Jetzt sehen sie, wie einzelne in den oppositionellen Bewegungen hochkommen, und sagen: Na, die können's eigentlich auch nicht sein. Und die Lösung ist: Helmut, hilf! Da produziert man schon heute sein eigenes Unglück. Ein Ausdruck politischer Naivität sondergleichen, an der natürlich die SED mit schuld ist, denn sie hat ein Feindbild aufgebaut, und deshalb nehmen die Leute auch diejenigen Wahrheiten nicht an, die sie tatsächlich transportiert hat.

Dass der Kapitalismus am Elend der Dritten Welt schuld ist, kann man in der DDR niemandem erzählen. Genauso wie am hinterwäldlerischen bayerischen Biertisch sagen die: Die sind doch selber schuld - die müssen arbeiten! Die Primitivität des deutschen Kleinbürgers hat die politische Szene erobert. Und wehe, du sagst es dem Kleinbürger.

Die SED hat also den Kleinbürgergeist durch vierzig Jahre Sozialismus gerettet...

... weil die SED eine kleinbürgerliche Karrieristenpartei war, die nie darauf geachtet hat, was die Leute wirklich glauben. Die Parteiführer hatten ja die Wirklichkeit abgeschafft und hielten die Theorie für die Wirklichkeit. Ein krankhafter Zustand: Sie glaubten, dass es so war, wie sie es sehen wollten. Andere sahen schon den Widerspruch, äußerten ihn aber nicht, um zu überleben.

Man hat den Eindruck, Honecker allein hat die 16 Millionen im Griff gehabt.

Es gab sozusagen einen Kontrakt zwischen Führung und Volk: Sie haben uns belogen, daraufhin haben wir sie belogen. Honecker stand oben und lobte sein Volk: "Prima, wie ihr das alles macht." Das Volk stand unten und hat "Las uns in Ruhe" gewunken und sich gedacht: "Du blöder Heini, wir wollen nach Hause und gucken ZDF." Honecker hat zurückgewunken und sich gesagt: "Wenn ihr mich in Ruhe lasst, schieß ich auch nicht auf euch."

In der Wirtschaft hat man die Statistiken gefälscht und die Originaldaten vernichtet. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung war es genauso: Das Hauptproblem ist nicht, dass wir eine Giftküche sind - so schlimm das ist. Das Schlimme ist: die Kommunisten haben dem Volk als ganzem das Differenzierungsvermögen weggenommen. Das Volk will die Wahrheiten gar nicht hören. Man darf hier keinem erzählen, dass auch der Kölner Dom auseinander bröselt. Dann ist man miesepetrig. Dass der Dom in Zeitz (südlich von Leipzig, d. Red.) auseinander bröckelt, das glaubt man - das waren ja die Kommunisten mit ihrer schlechten Energiepolitik.

Mit dem Schwinden des Selbstzutrauens trübt sich der Blick für das andere - so, dass wir denken, dort ist das Paradies und hier die Hölle, nur das Paradies hat die Kraft, die Hölle zu retten. Und wir sind die, die sich reinwaschen können nach dem Motto: "Wir haben mit der Hölle nichts zu tun - die, die sie gemacht haben, stoßen wir einfach ab. Und ihr Rechten könnt drüben sicher sein: Wir kommen nicht als Kommunisten zu euch - nein, nein, wir sind rechts." Sie ahnen, dass der Bundesbürger Angst haben könnte, nun würde hier der Sozialismus rüberschwappen: Instinkt des rechten Kleinbürgers.

Hat die Opposition bis zum 9. November die Möglichkeit überschätzt, andere Politikformen zu entwickeln - solche, wo nicht nur nach den Autoritäten und den westlichen Modellen geschaut wird, sondern die Gesellschaft ihre eigenen Selbstheilungskräfte mobilisiert?

Wir haben die Ansprechbarkeit der Volksmassen - wie man hier sagen würde - für differenzierte politische Sachverhalte überschätzt. Wir haben auch das Selbstbewusstsein der Masse der Menschen überschätzt, die hier geblieben sind. Drittens haben wir nicht geahnt, wie schnell die Wiedervereinigungsdynamik über uns kommt. Das ist wie eine Volksgrippe, angesichts des siechen Zustands des Landes. Was für Verbrecher uns regiert haben, wie hoch die Staatsverschuldung ist und wieweit die Industrie zurück ist - all das wusste zwar eigentlich jeder, wollte es aber nicht wissen.

Das Volk hat also die Wirklichkeit auch selber abgeschafft. Jetzt wird das allen klar, und da machen wir uns ganz hilflos und sagen: Da wir gar nichts können, bleibt uns nur eins: Uns darauf zu besinnen, dass wir Deutsche sind, und ihr müsst es machen. Und wenn der kleine Prinz von Nordrhein-Westfalen, also Blüm, sagt: "Isch möschte mit eusch vereinischt werden", dann toben die Leute.

Die Suche nach neuen Autoritäten geht Richtung Westen. Warum fehlt es in der DDR an geeigneten Objekten?

Wir haben ja hier keine Öffentlichkeit gehabt und keine Konkurrenz um Kompetenz. Wie konnte denn jemand hier zeigen, was er kann? Es gibt in dieser Stadt vorzügliche Pädagogen, Ingenieure, Handwerker. Aber es gab ja keine Begabtenförderung, sondern eine SED-Kaderpolitik. Außerdem wagt sich niemand ran, keiner will jetzt die Karre im Dreck anfassen, weil er Angst hat, dass man sagt: Du hast sie nicht rausgekriegt.

Die Intellektuellen sind abgetaucht, und der Blick der übrigen hat sich verengt, auf die "deutsche Frage".

Ja warum? Weil wir ihn nie ganz auf uns richten durften. Wir mussten ihn immer auf die große Sowjetunion richten. Immer wurde uns gesagt, es ginge um den Weltfrieden, und Entwicklungshilfe haben wir für Angola, Vietnam und Mosambik gegeben - auch Waffen -, um dort einen nicht funktionierendes System aufrechtzuerhalten. Es wurde nicht gefragt, was im eigenen Land los war. Nun sagt man sich: Jetzt ist Schluss, jetzt geht's um uns.

Sind die "Bewegungen", die eine ganz andere Politik machen wollten, damit zum Sterben verurteilt?

Der Aufruf "Für unser Land" hat die Leute aufgefordert, den Ausverkauf nicht zuzulassen. Und dann lasen sie in der Zeitung, was die hier für einen Ausverkauf gemacht haben, bekamen eine Wahnsinnswut und sagten: Was ist denn hier noch zu erhalten, was ist denn nicht schon ausverkauft? Das kann ich auch verstehen.

Damit gleichzeitig kam die Versuchung, die westdeutsche Parteienstruktur und auch das Grundgesetz zu kopieren, und die Bürgerbewegungen wurden an den Rand gedrängt Bewegungen, wo jeder Vorschläge machen, Macht kontrollieren und ausüben, wo jeder sich auch mal ausprobieren kann kluge wie dumme Vorschläge machen kann. Wir sind noch nicht ganz gescheitert, es gibt ja auch noch die Bürgerkomitees, aber nachdem der Damm gebrochen ist, können wir ihn nicht wieder zuschütten.

Jetzt muss es uns darum gehen, die Landschaft zu bereinigen, damit der Bürger weiß, wen er wählen soll. Er hat aber nur die Kriterien vom Westen. Wenn er FDP wählt - und die Leute gehen scharenweise von der LDPD zur FDP - weiß er, was er wählt -, oder denkt es zumindest - er hat ja im Westfernsehen gesehen, wie der Lambsdorff die Grünen, die Spinner, fertigmacht. Und wenn er Kohl wählt, wählt er den wirtschaftlichen Aufschwung und dass der's den Kommunisten zeigt.

Und wenn er Willy wählt?

Das ist, glaube ich, eine Gemütsentscheidung. Er wählt dann ein Symbol, und die SPD lebt bei uns ein bisschen von diesem großen Symbol.

Ist Ihnen da nicht unwohl, wenn die Deutschen mit dem Gemüt entscheiden?

Mir ist unwohl, aber ich denke, da ist noch so viel Rationalität drin. Willy hat die Aussöhnungspolitik nach Osten hin gemacht und ist ein unbescholtener Sozialdemokrat.

Nun wählt man aber mit seinem Kreuz nicht Brandt, sondern die SPD der DDR.

Man wählt ein demokratisches Symbol, darauf hoffend, dass wir ja bald mit der bundesrepublikanischen SPD vereinigt werden. Da gibt's ja nun genug Leute, die auch was können. Ich denke, es ist auch so ein Versuch, sich jemandem in den Schoß zu begeben.

Also geht es am 18. März [Volkskammerwahl] wirklich nicht um Inhalte, die hier in diesem Land diskutiert werden.

Wenig. Zu wenig. Die Frage ist, wie wir uns hier Eigenständigkeit bewahren und auch innovative Prozesse für die Parteienlandschaft in der Bundesrepublik in Gang setzen können. Ich denke, dass viele Leute bei uns, die in oder nahe der SPD sind, durchaus linkere Positionen dort stärken können. Etwa in der Friedenspolitik.

Ist das nicht eine in der BRD vor langer Zeit gescheiterte Hoffnung - innerhalb der SPD den linken Flügel stark machen zu können?

Das Volk zwingt uns zu einer solchen Klarheit. Im Demokratischen Aufbruch sind wir daran gescheitert. Schon beim Namen der Vereinigung wollten wir auf traditionelle Muster verzichten. Durch diesen Namen - Demokratischer Aufbruch - sind dann aber die ganzen Handwerker und Leute aus dem rechtsliberalen Spektrum reingeströmt. Die haben eine Partei daraus gemacht und uns - genau wie beim Neuen Forum - ganz kalt niedergestimmt.

Eure Wittenberger Gruppe hat diese Entwicklung nun akzeptiert und sich gesagt: Dann gehen wir gleich in eine richtige Partei.

Vor allem in eine Partei, die die Chance hat, auch die Verantwortung zu übernehmen. Eine pragmatische Entscheidung. An sich würden wir in eine Grüne Partei gehen. Aber das ist völlig sinnlos.

Man will an der Macht teilhaben.

Nein, ich will garantieren, dass es nach dieser Wahl anders losgeht. Es kann doch sein, dass ich mich da aus der SPD abmelde und wieder in eine Bürgerinitiative gehe. Ich gehe nicht noch mal in eine neue Partei.

Im letzten Sommer haben Sie noch von einer Sozialistischen Partei geredet. Ist auch darüber die Entwicklung hinweggegangen?

Ja, aber ich habe immer von einer sozialdemokratischen Partei geredet, die einen demokratischen, d.h. pluralistischen Sozialismus möglich macht. Der Begriff Sozialismus ist so desavouiert - in kleinen Zirkeln höchstens kann man davon noch reden, die Vereinigte Linke kann das machen, und bei denen gibt's auch so gute Leute. Aber sonst? In der Präambel des Demokratischen Aufbruchs zum Beispiel ist ja alles drin, da kann man auf den Begriff Sozialismus verzichten, aber die Sache voll vertreten. Die Politik muss wirklich und immer wieder im demokratischen Diskurs entwickelt werden, es muss immer wieder abgewogen werden: zwischen Zielen und Mitteln, zwischen Utopie und Wirklichkeit. Dieser ständige Diskurs muss erhalten werden bis hin an den Arbeitsplatz.

Und das soll mit der SPD gehen, wollen Sie da einen linken Flügel aufbauen?

Ich werde mich hüten - jetzt. Im Moment haben wir andere Aufgaben. Aber nach den Wahlen muss man dringend über die Zukunft der sozialen Demokratie nachdenken, genau und konsequent. Es kommen enorme soziale Probleme auf uns zu. Und wenn Sozialdemokraten sich dem nicht stellen, zu einer kleinen Handwerkerpartei werden und fragen, wie man den Profit am besten verwaltet, dann sind sie keine Sozialdemokraten. Ich würde fragen: Wie bleibt die soziale Frage unter dem Blickwinkel der ökologischen Verantwortung und einer globalen Solidarität erhalten, wie Gorbatschow sagt. Das kann man dann auch meinetwegen linken Flügel nennen.

Eher ist doch zu erwarten, dass unter dem Einfluss der West-SPD - personell wie programmatisch - das Saturierte, das Kleinbürgermoment noch an Stärke gewinnt.

Ach, das ist in unserer SPD so weit entwickelt. Das können die westlichen Politiker, die hier eingeladen werden, höchstens noch ein bisschen aufbrechen. Es war sehr gut, dass man Willy Brandt nach Thüringen geholt hat. Mit anderen hätten wir es gar nicht geschafft. Und in unsere Gegend sollten wir ein bisschen mehr Momper holen, als relativ Linken in der SPD kann ich ihn hier mit Anstand auftreten lassen - im Süden der DDR wahrscheinlich nicht.

Identifizieren Sie sich mit dem Ruf nach Westintegration?

Nein, manche Töne von Willy Brandt auf dem Parteitag haben mir da nicht so gefallen. Da ist seine persönlich verständliche Wut drin. Aber ich bin nicht für Westintegration, ich bin für die Entfaltung der Brückenfunktion eines konföderierten Deutschlands zwischen Ost und West - als Anrainerstaat zu Polen und der Tschechoslowakei hin. Wir sind ein Volk, wo viele Leute russisch gelernt haben, wo über die russische Literatur auch Verständnis und ein bisschen Liebe zu diesem Volk entwickelt worden ist. Es geht um Integration in Europa - nicht in Westeuropa. Insofern ist die Idee von Vaclav Havel, Prag zur Drehscheibe Europas zu machen, eine gute Idee. Denn Prag war das immer, als eine Vielvölkerstadt - und auch als eine deutsche Stadt, bevor die deutschen Juden von dort vertrieben wurden.

Interview: Michael Rediske und Annette Rogall

aus: taz Nr. 3029 vom 09.02.1990

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