Demokratie mit Harmonie — das geht nirgendwo

"Tribune" sprach mit WOLFGANG SCHNUR, Rechtsanwalt, Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs

• Auf Transparenten in Leipzig war jüngst anlässlich Ihres Auftritts auch zu lesen: Schnur-stracks in die Kohl-onie . . . Trifft Sie das?

Ich gehe davon aus, dass Demokratie kein Harmoniebündnis ist. Für mich sind solche Losungen eine Herausforderung, noch klarer für meine Ziele einzutreten. Sie mögen nicht allen einleuchten, doch die Vielfalt politischer Ansichten gehört nun mal zur Demokratie. Deshalb trifft es mich nicht. Allerdings verwahre ich mich dagegen, in die ganz rechte Ecke gestellt zu werden. Meine Mutter ist Halbjüdin, mein Vater wurde von den Faschisten umgebracht. Ich wurde christlich-sozial erzogen. Sagt das genug?

• Und doch: Es bleibt der Eindruck, Ihre Partei begnügte sich mit einer Kolonie . . .

Wer das behauptet, hat unser Programm nicht richtig gelesen. Wir hatten schon frühzeitig die Einberufung einer Nationalversammlung zur Klärung dieser Frage gefordert. Doch im November '89 war das noch tabu. Dann, am 16./17. Dezember auf dem Gründungsparteitag in Leipzig, hatten wir uns eindeutig zur staatlichen Einheit ausgesprochen.

• Aber mit welchen Prämissen?

Wir treten ein für die volle Anerkennung der Grenzen 1990, fordern das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Ost und West, wollen friedliche Regelungen mit den europäischen Nachbarn und den Siegermächten. Wir meinen, das Volk der DDR will die deutsche Einheit. Das können wir nicht ignorieren. Im Gegenteil: Wir müssen diesem Wollen Stimme und Vernunft geben.

• Sage mir, wie du zu den Gewerkschaften stehst, und ich sage dir, wer du bist. Welche Einstellung haben Sie zu ihnen?

Ich habe keine Hemmungen, es zu sagen: Gewerkschaften sind für mich ein wichtiges Grunderfordernis jeder Demokratie. Ohne sie verliefe alles nur einseitig. Kapital und Arbeit müssen bei uns das richtige soziale Verhältnis finden. Deshalb sind starke, unabhängige Gewerkschaften unerlässlich. Sie müssen Fragen der Gerechtigkeit, der sozialen Sicherheit, des sozialen Friedens mit klären. Das ist in den letzten Monaten ganz offensichtlich viel zu kurz gekommen. Die Gewerkschaften haben die Menschen im Ungewissen gelassen. Sie sind nicht reformfähig.

• Plädieren Sie deshalb für die von Ihrer Partei initiierten Aktion "DGB-jetzt"?

Unsere Arbeitnehmerorganisation wandte sich mit diesem Ersuchen an den DGB, weil wir meinen, ohne seine Unterstützung ist die Schaffung einer unabhängigen Einheitsgewerkschaft unmöglich. Wir wissen, dass dies auch bei vielen neuen Organisationen auf Unverständnis stößt. Doch es erscheint uns, die wir ja die schnelle Einheit Deutschlands anstreben, durchaus als logischer Schritt, eine unabhängige Einheitsgewerkschaft unter dem Dach des DGB zu schaffen. Dieser Prozess vollzöge sich über mehrere Etappen, an deren Ende dann die volle Eingliederung in den DGB stände.

• Der Zug der Einheit rast dahin . . . Besteht nicht die Gefahr, dass mancher dabei unter die Räder kommt?

Wenn Sie damit Arbeitslosigkeit und soziale Maschen im Netz meinen, sage ich: ja Zumindest zeitweilig. Aber die Schuld daran ist nicht bei den neuen Parteien und Organisationen zu suchen. Die administrative Planwirtschaft des Sozialismus hat total versagt. Das bestreitet wohl niemand mehr. Seit Januar haben schon wieder mehr als 100 000 die DDR verlassen. Inzwischen gibt es Arbeitslose, aber keine Arbeitsbeschaffungsprogramme. Die angestrebten Reformen der Regierung greifen nicht. Fragen der Mitbestimmung sind bislang ungeklärt. Und, und . . .

• Sagt die Allianz auch deshalb "Nie wieder Sozialismus"?

Ja. Es mag schmerzlich sein für Millionen, die mit ihm - wie ich auch - aufgewachsen sind. Doch wer jetzt das Gespenst der sozialen Unsicherheit an die Wand malt, der verkennt meines Erachtens die Zeichen der Zeit. Es gibt genug Arbeit in diesem Land. Ich denke an die runtergekommenen Betriebe, an die kaputten Städte, an Straßen und Wege, an Dienstleistungen, Handel und Wandei bei freier Marktwirtschaft. Für mich sind die bisherigen Sichten auf den Sozialismus wie auch auf den Kapitalismus überholt. Ich denke, wir müssen dies auch philosophisch neu definieren.

• Ihr Wahlbündnis kam erst im zweiten Anlauf zustande. Ist es nicht eher ein Zweckbündnis?

Wir glauben, die Bürger wollen eine starke christlich-soziale Fraktion. Aus dieser politischen Notwendigkeit heraus haben wir uns für ein Zusammengehen mit der CDU und der DSU entschieden. Erstere ist mit über 100 000 Mitgliedern stärker als wir (derzeit bei rund 60 000). Wir hoffen auf ein starkes Wählerpotential im Süden, auch im Norden.

• Würden Sie gewählt, was täten Sie zuerst?

Schnellstens die Rahmenbedingungen für die deutsche Einheit schaffen, Sofortprogramm einer sozial und ökologisch verantwortungsvollen Marktwirtschaft, einschließlich der Sicherung der Renten, des Rechts auf Arbeit für alle, Länderreform, weitete Abrüstung.

Es fragte Jürgen Zweigert

Tribüne, Mi. 28.02.1990

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