Rainer Eppelmann:

Am Anfang eines neuen Weges

Nach so viel Verstand lege ich Ihnen mal mein Herz ein bisschen hier her. Es ist für mich nichts Selbstverständliches, dass ich hier stehen und Ihnen einen Gruß sagen kann, einen guten Tag und eine erfolgreiche Tagung wünschen kann. Es ist für mich nicht selbstverständlich, persönliche Freunde, die ich unter Ihnen habe, wie Heinz oder Thomas oder Stephan Schwarz oder Frau Süssmuth oder Herrn Blüm, nicht nur heimlich im Falle dringender Familienangelegenheiten sprechen zu können, sondern ganz offiziell. Das ist für mich noch nichts Selbstverständliches.

Und es ist für mich auch nicht selbstverständlich, dass der Demokratische Aufbruch, den es eigentlich noch gar nicht gibt - er ist ja noch im embryonalen Zustand, er soll ja erst am kommenden Wochenende geboren werden -, dass der hier sitzen kann - ohne Ausreiseverweigerung. Was heute so ganz normal scheint, das war gestern noch exotisch und vorgestern scheinbar völlig unvorstellbar. Verstandesmäßig versuche ich zum mindesten auf der Höhe der Ereignisse zu bleiben - und das ist nicht leicht; gefühlsmäßig schaffe ich das wie viele meiner Landsleute nicht. Das geht viel zu schnell. Mich würde interessieren, wie es Ihnen gefühlsmäßig geht.

Mir geht das auch mit den neuen Tönen, so sehr ich mich darüber freue, in unserem Land zu schnell. 45 Jahre Feudalsozialismus - ich sage dieses Wort bewusst so - sind gerade erst vorbei. Und das ist nicht nur eine Tat des Erich Honecker und seiner Partei gewesen; da hat es noch andere Parteien gegeben, die da mitgetan haben. Das ist heute von einer Partei hier gesagt worden. Aber ich meine, mit einer Entschuldigung alleine ist es nicht getan.

Ich bin nicht bereit, die Tausende, die Hunderttausende zu vergessen, die geschrieen hätten, als vorhin davon die Rede war, dass wir alle Täter und Opfer zugleich sind. Philosophisch mag das stimmen; aber mancher Täter hats ganz schön warm gehabt und manches Opfer verdammt kalt.

Und ich bitte Sie einfach um Geduld, wenn wir - das hat mein Vorredner, wie ich finde, gut gesagt - mit Begriffen und mit Inhalten noch buchstabieren. Wir sind bis gestern eine geschlossene Gesellschaft gewesen. Das heißt, über das Thema Einheit durfte überhaupt nicht geredet werden. Wer das getan hat, der ist dafür bestraft worden, und nicht nur von den Genossen der Sozialistischen Einheitspartei. Das heißt, geben Sie uns bitte die Chance, dass wir uns finden können.

Wir brauchen Zeit. Und verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wir brauchen auch Zeit vor Ihnen. Sie sind stark, das wissen Sie. Ich bitte Sie, nehmen Sie Rücksicht - auch auf uns. Das Wort von der Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen, so meine ich, ist ein gutes Wort. Lassen Sie uns gerade auch in der jetzigen Situation, am Ende dieses Jahres, am Anfang eines neuen Weges für die Deutschen in beiden deutschen Staaten und für die Menschen in Europa, dieses Wort neu buchstabieren.

Die meisten von Ihnen werden verheiratet sein oder es gewesen sein. Ich behaupte einfach mal, Sie werden Ihrer Frau oder Ihrem Mann nicht nur ein einziges Mal gesagt haben ich liebe Dich und dann nie wieder - die weiß das ja nun.

Gefühle bedürfen der Bestätigung und der Gewissheit, sie müssen immer wieder ausgesprochen werden. Von daher können wir - darum hat mir die heutige Rede Ihres Bundeskanzlers ausgesprochen gut gefallen - und müssen wir es unseren Nachbarn immer wieder sagen, ja, wir können nicht oft genug sagen: Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben. Wir können das verstehen auf dem Hintergrund der Geschichte, der Erfahrung, die Ihr mit uns gemacht habt.

Aber glaubt uns, wir wollen wie Ihr gute Europäer sein. Und wir wollen das dadurch auch zum Ausdruck bringen, dass wir über unsere Zukunft, über die wir letztlich allein bestimmen müssen, mit Euch gemeinsam reden werden, zum Beispiel im KSZE-Prozess. Da gehört meiner Meinung nach die deutsche Zukunft und die deutsche Frage auch hin. Und wenn es uns gelingt, den Polen, hauptsächlich den Polen, die Angst zu nehmen, dass sie jetzt wieder in Vergessenheit geraten, weil Sie Ihre Kraft jetzt voll in die DDR investieren, dann wäre auch das ein Stück Verantwortungspartnerschaft. Den Polen geht es schlechter als uns.

Und ein letztes Stichwort in Sachen Verantwortungsgemeinschaft: Versuchen Sie sich in die Situation von vielen DDR-Bürgern hineinzuversetzen, die, wenn Sie sie fragen, natürlich in ihrer großen Mehrheit von der Einheit reden würden.

Ich glaube, viel weniger DDR-Bürger würden von Wiedervereinigung reden, als das offensichtlich in der Bundesrepublik immer noch der Fall ist, weil das bei uns zumindest ein wenig den Klang hat: das ist etwas zurück, das mal gewesen ist, da wollen wir wieder hin. Das möchten wir eigentlich nicht, sondern das soll ein Prozess zweier Gesellschaften sein, die aufeinander zugehen. Meine Hoffnung, meine Bitte wäre, dass nicht bloß wir uns verändern müssen, sondern Sie auch.

Noch sind Sie keine ganz ideale Gesellschaft. Ich hoffe, da sind wir einer Meinung.

Ein letzter Satz. Geben Sie uns DDR-Bürgern die Chance, morgen nicht feststellen zu müssen, dass wir 45 Jahre lang umsonst gelebt haben. Das kann ungeheuer bitter sein, und das würden wir dann irgendwann alle zu spüren bekommen. Ich bitte Sie, nehmen Sie den schwächeren Partner als Partner ernst. Dankeschön.

Die Redebeiträge der Gäste aus der DDR sind Abschriften von Tonbandmitschnitten. Wir bringen die Reden im Wortlaut, aber mit geringfügigen Kürzungen.

aus: Union in Deutschland, Nr. 40/89


Rede Rainer Eppelmanns vor dem Bundesausschuss der bundesdeutschen CDU in Berlin am 11.12.1989.
Seine Äußerung: "Ich bin nicht bereit, die Tausende, die Hunderttausende zu vergessen, die geschrieen hätten, als vorhin davon die Rede war, dass wir alle Täter und Opfer zugleich sind. Philosophisch mag das stimmen; aber mancher Täter hats ganz schön warm gehabt und manches Opfer verdammt kalt.", bezieht sich auf die Rede des Generalsekretärs der CDU der DDR, Martin Kirchner aus Eisenach.

In seiner Rede sagte er: "Lassen Sie mich aber auch sagen: Wir alle in der DDR sind Täter und Opfer zugleich. Ich sehe nicht, dass der eine die weiße Weste hat und der andere allein die Schuld trägt. Wir alle haben uns eingerichtet in diesem System, und der Grad der Schuld zwischen Täter und Opfer unterscheidet uns. Es ist eine Gnade Gottes, wenn der eine oder andere von uns Sagen kann: Ich bin weniger schuldig geworden und bin mehr Opfer als der andere."


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