Schulzeit ist Entwicklungszeit

DLZ: Welche Bildungsziele betrachten Sie für eine erneuerte Schule als wesentlich?

HANS-HENNING HARDER: In unserem Leipziger Programm heißt es: "Die Schulzeit ist nicht in erster Linie Leistungszeit sondern Entwicklungszeit". Mit dieser Aussage haben wir einen entscheidenden Grundsatz für eine Neugestaltung des Bildungswesens ausgesprochen. Denn ein Kind lernt von Natur aus gern. Es lernt "spielend". Diese Erkenntnis muss festgehalten werden, wenn es darum geht, neue kindgerechte Schulmodelle zu entwickeln. In den beiden untersten Klassen sollte von einer Zensierung grundsätzlich abgesehen werden. Es genügt vollauf, wenn der Lehrer den Eltern gegenüber eine Einschätzung der "Begabung" und des Leistungsvermögens ihrer Kinder vornimmt. Dadurch könnten Eltern in besserer Weise auf eine mehr theoretische oder mehr praktische oder auch ausgesprochen musische Begabung ihres Kindes hingewiesen werden, was eventuell die Entscheidung erleichtert, die Schulform zu wählen, die die Fähigkeit des Kindes wirklich fördert.

Ziel einer Schulbildung muss sein, einen bisher lediglich rezeptiven Schüler zur Fähigkeit zu verhelfen und seine innere Bereitschaft zu entwickeln, eine eigenständige Lebensgestaltung in sozialer und umweltbewusster Verantwortung wahrzunehmen.

Auf dem Wege zu diesem Ziel ist ein größeres Gewicht als bisher zu legen auf die Vermittlung von humanistischem und geistig-kulturellem Bildungsgut. Umwelterziehung, Gesellschaftskunde, Friedenserziehung sind von besonderem Gewicht bei der Vorbereitung eines jungen Menschen auf das Leben von morgen. Ein breites Angebot von Wahlfächern muss den individuellen Begabungen und Neigungen der Schüler entgegenkommen. Darüber hinaus ist besonderer Wert auf europäische Sprachen zu legen, um die Schüler zu befähigen, europäisch zu denken und zu leben und ihnen so den Weg zu den europäischen Nachbarn und ein Aufeinander zugehen zu erleichtern.

DLZ: Was betrachten Sie an der bisherigen Schule als bewahrenswert?

HANS-HENNING HARDER: Das lässt sich ad hoc schwer beantworten. Wir müssen ja zunächst von der derzeitigen Schulsituation ausgehen. Bevor eine neue Lehrergeneration ausgebildet sein wird, werden Jahre vergehen. Und: Wer sollen die Ausbilder sein? Obwohl es natürlich eine Reihe von Lehrerinnen und Lehrern gibt, die lange schon mit dem Margot-Honecker-Bildungskonzept nicht übereinzustimmen vermochten. Diese Lehrerinnen und Lehrer sind stark motiviert, sich auf ein neues Bildungssystem einzustellen. Ein paar Lehrer und Lehrerinnen wird es jedoch geben, die so starr und uneinsichtig sind, dass sie in Zukunft nicht geeignet sein werden, Lehrer in einer neuen Schule zu sein. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer scheinen sich jedoch ohne besondere Berührung anstandslos auf die neue Situation einzustellen, als hätten sie keine wirkliche eigene Meinung, oder aber sie halten das für ihre Meinung, was die gerade "herrschende" Meinung ist.

Zudem darf nicht übersehen werden, dass auch die Schüler unserer Schule vorn Elternhaus her, von Krippe, Kindergarten, Hort und den ersten Schuljahren her in alten Kategorien gefahren sind und zu einem absolut rezeptiven Schülerverhalten erzogen wurden. Ja, auch ihre Eltern sind bereits durch die sozialistische Schule gegangen und von ihr mehr geprägt und auch geistig deformiert als es ihnen bewusst ist.

Die Schulbücher sind nicht mehr wirklich benutzbar. Deshalb sollen vorübergehend Schulbücher westdeutscher Bundesländer daraufhin geprüft werden, welche von ihnen in der DDR übernommen werden können.

Es muss aber auch an den Freizeitbereich unserer Schüler gedacht werden. Es kann nicht damit getan sein, die Staatsjugendorganisationen aus der Schule zu weisen, ohne gleichzeitig neue Kinder- und Jugendgruppen (z.B. Pfadfindergruppen) anzubieten. Da auch die Betriebssportgruppen in Gefahr geraten sind, entsteht ein gefährliches Vakuum.

Das Gespräch führte Uwe Hagen-All

aus: Deutsche Lehrerzeitung 09/90, 4. Februarausgabe

Δ nach oben