Pfiffe für die Opposition

Beim Thema "Polen" bekommen die DDR-Oppositionellen wenig Beifall

Es sind nicht gerade Heimspiele, die die VertreterInnen der SED absolvieren, wenn sie in diesen Herbsttagen den Menschen in der DDR gegenübertreten und hilflos um neues Vertrauen werben. Das Publikum pfeift sie unnachsichtig aus. Kein Wunder, da wir doch bisher überhaupt nicht aufs Spielfeld gelassen wurden. Wer sich anschickte mitzuspielen, bekam die rote Karte gezeigt, bevor überhaupt der Angriff erfolgt war.

Ein gellendes Pfeifkonzert also auch in Fürstenwalde, einen Tag vor der Berliner Demo. Während der Anfahrt im Trabi verständigten wir uns, hier, in der Kreisstadt zwischen Berlin und Frankfurt und in der Nähe des Grenzflusses Oder, die Frage der deutsch-polnischen Nachbarschaft nicht auszusparen. Die Veranstaltung wurde aus der Kirche auf den Vorplatz verlegt, es sollte Platz sein für alle. Statt der erwarteten Hunderte kamen an die zehntausend Menschen aller Alters- und Berufsgruppen.

Neben den Altparteien stellten sich die neuen Gruppierungen der demokratischen Opposition vor: Neues Forum, Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt", Demokratischer Aufbruch, Sozialdemokratische Partei. Für "Demokratie Jetzt" sprach Michael Bartoszek: "Vorläufig haben wir die Vorgärten gestürmt. Im eigenen Haus sind wir deswegen noch lange nicht. Da schauen zwar mittlerweile andere Leute aus den Fenstern, aber die waren ja vorher schon drin." Rauschender Beifall. Es war wenige Tage nach der Wahl von Egon Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrats. Gegen Ende seiner sieben Minuten dann der Test auf die Stimmung im Volk: "Was wir jetzt anstreben - Entstalinisierung des öffentlichen Lebens, Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, Reform an Haupt und Gliedern, freie Gewerkschaften, Reinigung vom Mief des realen Sozialismus - darum ging es in Polen schon vor zehn Jahren, vergessen wir das nicht, die hatten schwierigere Bedingungen, Breschnew regierte im Kreml, kein Gorbi in Sicht, sie mussten viel größere Opfer bringen, denken wir nur an das Kriegsrecht oder an Pfarrer Popieluszko. Polen verdient unsere Solidarität, auf polnisch heißt das Solidarność."

An dieser Stelle gab es - neben viel Beifall - Pfiffe und Zwischenrufe: "Die sollen erst mal ordentlich arbeiten, kaufen alles leer, kommen nur zum Handeln, diese Schieber und Spekulanten, wollt ihr etwa, dass es in zehn Jahren bei uns so aussieht wie jetzt in Polen?" Stimmen, die sich in den Chor der Hunderttausende mischen, die da rufen: "Wir sind das Volk." Einen Tag später, bei der inzwischen legendären Berliner Großdemonstration - man möchte sie als "machtvoll" bezeichnen, wäre das Wort nicht aus dem Neusprech von gestern -, tauchte unter Tausenden dieses Transparent auf: "Wir wollen Demokratie - keine Solidarność." Eine Stasi-Provokation? Schon möglich, aber gar nicht so sicher. Und wenn es eine war, warum hat sie das souveräne Volk auf der Straße nicht verhindert? So oder so bleibt es ein Wermutstropfen im süßen Wein des sich endlich artikulierenden Volkswillens.

Solche Episoden aus den letzten Wochen werfen eher beiläufig ein Schlaglicht auf das Verhältnis Polen/DDR. Es ist am Ende der achtziger Jahre ungeklärter denn je. Nach einer positiven Phase während der siebziger Jahre - freier Reiseverkehr begünstigte eine Öffnung nach Osten auch kulturell und im Bereich der zwischenmenschlichen Kontakte schottete sich die DDR gegen den "Solidarność-Virus" ab. Die Friedensgrenze an Oder und Neiße wurde für den privaten Verkehr gesperrt, und die Propaganda ging in die Offensive. Ganz zart brauchte sie nur an den Saiten aus der Geschichte überkommener antipolnischer Klischees zu zupfen, um einen gewaltigen Resonanzboden in Schwingung zu versetzen.

Nunmehr rächte sich bitter, dass es in der DDR keine öffentliche Diskussion über die ehemaligen Ostgebiete und die Oder/Neiße-Grenze gegeben hatte, mithin auch keine Bilanzierung des Verlusts und der Gründe für diesen Verlust, also Bemühungen einer Gesellschaft, die zu einem neuen Verhältnis hätten hinführen können. Diese Fragen wurden von den beiden Staatsparteien SED und PVAP sehr früh einvernehmlich geregelt, ohne das Volk zu fragen. Der Antifaschismus, unmittelbar nach dem Krieg sicher eine sinnvolle Staatsraison, hat im Laufe der Zeit eine Auseinandersetzung mit der Geschichte eher behindert als erleichtert. Er hat es uns nämlich zu leicht gemacht und brachte uns damit zugleich um eine Chance. Nie erlebten wir eine Versöhnungsgeste wie die von Willy Brandt am Warschauer Ghettodenkmal. Nie wurde unserer Gesellschaft eine öffentliche Debatte über die Entschädigung von Häftlingen der Nazikonzentrationslager und Zwangsarbeitern zugemutet. Und wie steht es mit der gemischten Schulbuchkommission? Ebenso Fehlanzeige.

Es kann aber nicht die ganze Misere auf das System abgewälzt werden. Im selben Jahr, als ein polnischer Kardinal zum Papst gewählt wurde, der in seiner Soziallehre verlangte, der Staat habe Ausdruck der Interessen des Volkes zu sein, kreierte die evangelische Kirche in der DDR ihre zumindest missverständliche Formel von der "Kirche im Sozialismus". Noch vor drei Jahren sagte ein Oberkirchenrat vor Jugendlichen, er sehe keinen Anlass, Kontakte zur katholischen Kirche in Polen zu suchen. Auch die Oppositionellen - in Polen während der achtziger Jahre eine mächtige, wenn auch unterdrückte Bewegung, in der DDR kleine Gruppen ohne größeren Einfluss - brachten keine Plattform zustande, auf der ein zur Annäherung führender Dialog hätte sinnvoll stattfinden können.

Selbst da, wo es hätte anders sein können, ein Nicht-Verhältnis. Für deutsche Belange war aus polnischer Sicht allemal die Bundesrepublik der attraktivere Partner, für die Intellektuellen und die Opposition wegen der Authentizität der Kontakte, für die Kommunisten seit Gierek wegen des Geldes.

Polen hat bereits 1956 erste Schritte zum Abbau des strukturellen Stalinismus unternommen. In der DDR sorgte Walter Ulbricht für weitgehende Kontinuität. Polen ist seit zehn Jahren im Aufbruch zur Demokratie. Was sich gegen starke Widerstände nicht nur im eigenen Land, sondern auch aus Moskau und Berlin/Ost durchsetzen musste, beginnen wir erst seit wenigen Wochen nachzuholen - gleichsam im Zeitraffertempo und mit Rückenwind aus Moskau, Warschau und Budapest. Eine erstarrte, an stalinistischen Dogmen festhaltende DDR war schon lange für Polen zum Hindernis geworden bei dem Versuch, Anschluss an die europäische Normalität zu gewinnen. Seit geraumer Zeit fragte man sich in Warschau, ob nicht eine undemokratische DDR für stabile und vorteilhafte Beziehungen zum westlichen Nachbarn auf Dauer nicht gefährlicher wäre als ein vereinigtes Deutschland. Und das gerade da, wo die Furcht vor einer neuerlichen Machtkonzentration in Zentraleuropa besonders groß und aufgrund historischer Erfahrungen verständlich ist. Kein Wunder also, dass die Öffnung der Mauer und der Zusammenbruch des ancien regime in Polen enthusiastisch begrüßt wurde. "In Berlin siegte die Freiheit über den Stacheldraht", schrieb Adam Michniks 'Gazeta Wyborcza', und ein größeres Kompliment könnte uns dieser kompromisslose Anwalt für die Freiheit und die Rechte des Menschen nicht machen.

Bleibt zu fragen, ob uns eigentlich bewusst ist, dass zum 9. November auch Adam Michnik und seine Freunde ihren Teil beitrugen, als sie jahrelang Haftstrafen und andere Segnungen des totalen Staates auf sich nahmen. Wir in der DDR haben eine Geschichte hinter uns, "wo nun in einer ganz unideologischen Weise, ganz anders als das die SED sich je gedacht hat, ihre These vom Staatsvolk der DDR auf einmal Wirklichkeit wurde, indem jene Million um den Alexanderplatz herum sagte: Wir sind das Volk." So sagte es Wolfgang Ullmann, einer der Initiatoren der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" am 18.11.89 in der taz. Eine Identität für die DDR jenseits des Stalinismus ist denkbar geworden. Wenn dem Enthusiasmus des Aufbruchs die Ernüchterung des Alltags folgt, wird sie nur Bestand haben und sich weiterentwickeln, wenn sie auch eine Orientierung nach Osten hin sucht und dort einen Halt findet, wenn sie nicht ausschließlich auf den Westen fixiert bleibt. Andernfalls würde doch das Geld alles entscheiden.

Die Opposition hätte jedenfalls viel für eine erneuerte DDR jenseits von Ulbricht, Honecker, Krenz geleistet, wenn sie für solche Thesen vom eigenen Volk nicht mehr Pfiffe bekommt.

Ludwig Mehlhorn, Berlin/DDR, November '89

aus: taz Nr. 2972 vom 27.11.1989

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