"Wir brauchen die offene Diskussion"

Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" fordert SED zum Dialog über demokratische Veränderungen auf

Sie wollen nicht länger vergebens auf Veränderungen von oben warten: Während Zehntausende ihrer Landsleute frustriert die DDR verlassen, versammelten sich am Sonntag Abend rund 400 Menschen in der Ostberliner Bekenntnisgemeinde, um einen anderen Ausweg aus der politischen Stagnation in der DDR zu suchen: Bei den nächsten Wahlen, so forderten sie, soll es eine wirkliche politische Alternative zur Einheitspartei geben. Zwar ist noch keine Parteigründung geplant, aber eine DDR-weite "Sammlungsbewegung", die Konzepte für eine Reform der DDR entwickelt.

In Ost-Berlin sprach die taz mit Stephan Bickhardt, Vikar und Mitglied der Gruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung", die die Forderung nach einer oppositionellen Sammlungsbewegung erhoben hat.

taz: Warum wollen gerade jetzt so viele DDR-Bürger ihr Land verlassen?

Stephan Bickardt: Ich glaube, die größere Freizügigkeit zwischen Ost und West, die Demokratisierungsbestrebungen in Ungarn, Polen und in der Sowjetunion und das jahrelange, vergebliche Warten auf eine Veränderung in der DDR hat einen Druck erzeugt, der viele DDR-Bürger ergreift.

Eigentlich müssten doch viele in der DDR gerade jetzt bleiben, und Hoffnung auf baldige innenpolitische Veränderungen haben, wenn sie sehen, in Polen, Ungarn, der Sowjetunion bewegt sich was.

Es gibt in der DDR keine Tradition des langen Atmens in Blick auf demokratische Veränderungen. Außerdem: Neben der Faszination, die vor allem unter Intellektuellen die Prozesse in der Sowjetunion ausüben, hat die Bundesrepublik mit ihrer ständigen Präsenz in der DDR durch das Westfernsehen ein Erwartungsbild geschürt: Um mehr reisen zu können, um ein anderes Auto fahren zu können, stellen manche einen Ausreiseantrag, auch wenn wirtschaftliche Gründe für die Ausreise heute nicht mehr so ausschlaggebend sind wie in den 50er Jahren. Es ist eher die Erfahrung von Gängelei und Bevormundung durch Behörden.

Was bewirkt die jetzige Ausreisewelle bei denen, die entschlossen sind zu bleiben?

Traurigkeit, Nachdenklichkeit und die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, sich zu engagieren, da man jahrelang erlebt hat, wie demokratische Initiativen brüsk abgeschmettert werden. Einige haben resigniert und glauben, es wird sich nichts mehr verändern.

Welche innenpolitischen Auswirkungen hat die Ausreisewelle aus der DDR?

Innerhalb der Partei, unter jüngeren Mitgliedern, den Akademikern und in den Betriebsparteiorganisationen wird mehr Nachdenklichkeit vorherrschen als im Zentralkomitee oder den Bezirksleitungen der SED. Ich glaube, dass früher oder später sich ein Reformflügel in der SED entwickeln wird.

Also stärken die Ausreiser die politischen Reformer in der DDR?

Die Ausreisewelle ist ein Indiz für notwendige Reformen. Und das wird diejenigen, die mit den Reformprozessen in anderen osteuropäischen Ländern sympathisieren, ermutigen und in ihrer Argumentation gegen die Betonfraktion stärken. Das Problem ist nur, dass niemand so richtig weiß, wie die Machtlage im Moment ist. Das sieht ja alles sehr unwidersprüchlich und abgeschlossen aus. Man hört nur öfter von widersprüchlichen Diskussionen zum Beispiel in Parteiversammlungen: da wird über Ausreisen diskutiert, über Geschichtsbewältigung, angesichts der Stalinismus-Diskussion in der Sowjetunion, da werden wirtschaftliche Probleme vor allem im Vergleich zu dem sehr hohen Lebensstandard in der Bundesrepublik diskutiert, aber auch Fragen der Erziehungspolitik und des Verhältnisses zur Kirche.

Was muss sich in der DDR ändern, damit die Leute bleiben?

Ich würde der SED empfehlen, dass sie diese Frage der Bevölkerung stellt.

Und was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit die DDR-Bürger nicht mehr reihenweise ihr Land verlassen?

Das alles entscheidendste: Wir brauchen eine freie, öffentliche Diskussion über alle relevanten Fragen: die Ausreise, die ökologischen Probleme. Wo ungerechte Behandlung von Bürgern durch Behörden vorliegt, muss darüber gesprochen werden. Wir brauchen eine offene Diskussion, an der jeder sich beteiligen kann, wenn er will - Glasnost in der DDR. Ich glaube, dass eine öffentliche Diskussion diesen Überdruck und auch die Kurzschlüssigkeit, mit der viele Leute ihren Ausreiseantrag stellen, erheblich mindern wird. Zweitens brauchen wir eine Wahlrechtsreform mit der Zulassung unabhängiger Vereinigungen, zum Beispiel derjenigen, die sich in der Ökologiefrage engagieren, damit die negative Stimmung, die sich wegen des offensichtlichen Wahlbetrugs nach den Kommunalwahlen ausgebreitet hat, ein Ende hat. Die Leute in der DDR müssen das Gefühl bekommen, das ist mein Land, hier lebe ich gerne und die Repräsentanten des Staates, die das Volk regieren, die habe ich gewählt, das sind die Volksvertreter. Eine schlichte Anlehnung an die Bundesrepublik und eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1949 kann kein Ansatzpunkt für eine Reform sein, zumal die Bundesrepublik auch aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse daran hat.

Warum versuchen so wenige Leute in der DDR politisch etwas zu verändern?

Weil es seit Jahren keine freie politische Diskussion gibt in der DDR und weil die DDR-Bürger über die Medien der Bundesrepublik eine relativ freie Diskussion mitvollziehen. Viele Leute haben ein politisches Ersatzbewusstsein, indem sie Tagesschau und Tagesthemen sehen und darüber diskutieren. Viele leben mit dem Gefühl, die jetzigen Verhältnisse haben nur vorläufigen Charakter, obwohl sie so festgefahren sind. Sie erwarten sich eine Verbesserung von oben, nicht von sich selbst und ihrem Engagement. Ausnahme sind einzelne Gruppen und Einzelpersönlichkeiten. Allerdings sind das wenige.

Wir würden erwarten, dass viel mehr Schriftsteller und andere Intellektuelle sich zu tagespolitischen Fragen äußern.

Die Gruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung", der Sie angehören, fordert "autorisierte Gesprächsrunden" in der DDR mit allen gesellschaftlich relevanten Kräften. Was wollen Sie damit erreichen?

Autorisierte Gesprächsrunden sind weder Kamingespräche noch geheime, sondern öffentliche. Alle relevanten Gruppierungen in der DDR müssen sich beteiligen können. Relevante Gruppierungen heißt nicht, zahlenmäßig riesengroße Organisationen, sondern kleine, profilierte Gruppen, wie das ökologische Netzwerk "Arche" oder die "Initiative Frieden und Menschenrechte".

Wie realistisch ist Ihr Vorschlag?

Es gibt durchaus Parteigenossen, die den Dialog suchen würden. Namentlich hat das zum Beispiel Rolf Reisig immer betont, allerdings ist ihm nie die Möglichkeit gewährt worden. Die dialogbereiten Kräfte in der Partei haben nur eine äußerst geringe Macht.

Was könnten solche Gespräche bringen?

Sie könnten zumindest die wirkliche Problemlage in der DDR offen legen. Das ist eines der größten Probleme, dass wir keinerlei Ergebnisse von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über die wirkliche Lage in der DDR haben. Die Bevölkerung kennt weder die genaue wirtschaftliche Situation noch wie viele Ausreiseanträge bestehen, wie hoch ein rechtsradikales Potential ist, das sich leider gebildet hat. Die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien werden in der DDR entweder kaschiert oder unter Verschluss gehalten. Das ist angesichts der ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen ein unhaltbarer Zustand.

Viele, die sich in der DDR für Reformen engagiert haben, sind in den letzten Monaten und Jahren gegangen. Was gibt Ihnen denn die Zuversicht, dass sich noch etwas ändern wird?

Wie bei vielen spielen ganz persönliche Dinge eine Rolle: Verwandte, Freunde. Außerdem will ich mit der angefangenen Arbeit nicht einfach aufhören. Und ich gehöre auch nicht zu denen, die die Illusion haben, sie im Westen besser fortsetzen zu können.

Glauben Sie daran, dass sich in den nächsten Jahren etwas ändert?

Es wird sicher in den nächsten Jahren mehr Reisemöglichkeiten geben, und es wird wieder mit einem riesigen Aufwand um jedes Stück humanitärer Erleichterung gekämpft werden. Eine reformerische Grundsituation wird wohl erst nach der Ablösung der jetzigen Parteiführung gegeben sein.

Die Oppositionsgruppen grenzen sich sehr bewusst von den Ausreisern ab. Die Ausreisebewegung ist aber ein zentrales Problem der DDR. Machen Sie da nicht einen Fehler?

Die Kritik wird manchmal schon dahingehend überspitzt, dass gesagt wird, die Gruppen werden die letzten in der DDR sein, die die Regierung verteidigen. Das ist natürlich nicht so. Aber man muss sich einfach vor Augen halten: Es handelt sich um etwa 500 Gruppen mit zehn bis 20 Leuten und um, sagen wir mal, 500.000 Ausreisewillige. Und entweder machen die Gruppen ihre Arbeit oder sie verändern sich völlig und machen sich zum Sprecher der größten politischen Opposition, die die DDR kennt, der Ausreisebewegung. Das muss jede Gruppe selbst wissen, wie sie da handelt.

Interview: Clara Roth

aus: taz-Berlin Nr. 2884 vom 15.08.1989


Die Zeile im Vorspann: "Bei den nächsten Wahlen, so forderten sie, soll es eine wirkliche politische Alternative zur Einheitspartei geben," ist eine Übertreibung der taz.


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