Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender!

Zu Ihrer Äußerung über die Berliner Mauer bei der Tagung des Thomas-Münzer-Komitees am 19. Januar 1989 können wir nicht schweigen. Wir verkennen nicht, dass es 1961 Gründe für den Bau der Mauer gegeben hat. Wir bezweifeln auch nicht, dass Sie an der Politik innerer und äußerer Abgrenzung festhalten, weil Sie davon überzeugt sind, dass dies im wohlverstandenen Interesse der Bevölkerung der DDR liegt.

Wir als Bürger dieses Landes sind jedoch anderer Meinung. Mit unserer Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" setzen wir uns aus christlicher Verantwortung für eine Überwindung dieser Politik ein, weil wir wissen, dass sehr viele Menschen unseres Landes darunter leiden. Wir sind in der DDR aufgewachsen und wissen, wovon wir reden. Wir haben die tiefgreifenden Schäden, die die innere und äußere Abgrenzung unserer Gesellschaft zugeführt hat, benannt und in einem von uns getragenen Zeugnis der Betroffenheit in der Ökumenischen Versammlung der Kirchen der DDR zur Sprache gebracht. Das breite zustimmende Echo, das wir damit gefunden haben, bestärkt uns in der Berechtigung unseres Anliegens.

Jeder weiß, dass die Mauer nicht gegen irgendwelche Räuber nach außen, sondern vor allen nach innen gerichtet ist. Unser Land braucht eine Stabilität durch Gerechtigkeit und nicht eine Stabilität der Angst, die durch innere und äußere Abgrenzung gesichert werden muss. Unser Land braucht wirkliche Stabilität, die sich nur auf einem gesellschaftlichen Grundkonsens gründen kann. Damit er sich zeigen und wachsen kann, fordern wir mit der Ökumenischen Versammlung die Ermöglichung und Eröffnung eines freien, ehrlichen und öffentlichen Dialogs aller Gruppen und Kräfte unserer Gesellschaft (Glasnost). Das wäre der erste und wichtigste Schritt zur Beseitigung der heute noch wirkenden Gründe für den Fortbestand der Mauer. Mit Eduard Schewardnadse (Außenministertreffen der KSZE in Wien) halten wir ihre Überprüfung für dringend erforderlich. Es sind vorwiegend innere Gründe, nicht äußere. Es liegt an Ihnen, Schritte zu ihrer Überwindung einzuleiten und zu ermöglichen. Wir und unsere Kinder wollen nicht noch 50 Jahre warten.


Erich Honecker sagte am 19.01.1990 u. a.: "Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen von denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören."

Zuvor hatte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse erklärt, es müsse darüber nachgedacht werden, ob die Gründe, die zur Errichtung der Berliner Mauer geführt hätten, noch existieren.

Δ nach oben