Kommentar

"DIE MAUER MUSS WEG" - UND NUN?

Die Mauer ist weg, jedenfalls was den wichtigsten Teil ihrer Funktionen nach innen betrifft. Grund zur Freude für alle, die in den letzten Jahren für das Menschenrecht auf Freizügigkeit mit ihrer Person einstanden. Reinhard Lampe, Mitinitiator unserer Bürgerbewegung, hatte sich am 25. Jahrestag des 13. August an ein Fensterkreuz gegenüber der Mauer gekettet und dafür das Gefängnis Hohenschönhausen von innen gesehen. Für ihn und viele andere ist die Öffnung der Grenzen eine späte Genugtuung. Der Mief unter der Käseglocke kann endlich abziehen. Europäische Normalität wird für uns alle erlebbar.

Aber aufgepasst! Die neue Situation wird die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme der DDR weiter verschärfen und soziale Konflikte hervorbringen. Es gibt warnende Stimmen, die ein weiteres Ausbluten der DDR und eine Kolonisierung in Glanz und Glimmer befürchten, ohne dass wir in diesen Prozessen eine Möglichkeit der Mitsprache haben werden. Andere sehen die Gefahr, wir könnten uns die Demokratisierung des Staates durch Reisen abkaufen lassen.

Ich möchte diese Kassandrarufe nicht bagatellisieren, meine aber, dass die Chancen größer sind. Allein schon das Wieder-Zusammenführen des städtischen Organismus Berlin ist eine Herausforderung an Gestaltungswillen und -fähigkeit von uns allen.

Die Mauer war (ist?) zugleich das Symbol der Teilung des Kontinents. Wir sind nicht die ersten, die diese Zerstörung gewachsener zivilisatorischer und kultureller Zusammenhänge anfochten. Ungarn hat das erste Loch im "Eisernen Vorhang" aufgemacht, und Polen wurde auf dem Weg nach Europa bisher von einer erstarrten und selbstzufriedenen DDR gebremst. Im deutsch-deutschen Begeisterungstaumel sind mithin Bescheidenheit und Solidarität mit den osteuropäischen Ländern dringend geboten. Die Opposition muss schleunigst außenpolitische Konzepte entwickeln, die solchen Fakten Rechnung tragen.

Überhaupt ist daran zu erinnern, dass jede neue Freiheit auch neue Verantwortung mit sich bringt. Es mögen Einzelerscheinungen gewesen sein, aber in Westberlin Schilder der "Straße des 17 Juni" durch "9. November" zu überkleben oder gar den 9. November als Nationalfeiertag der Deutschen einzufordern, sind dumme, ja gefährliche Unverschämtheiten. Solche Ansinnen können unsere friedlich-gewaltfreie Revolution schon an ihrem Beginn ihrer moralischen Substanz berauben und im Keime ersticken. Der 17. Juni darf nicht aus dem geschichtlichen Gedächtnis getilgt werden, und der 9. November ist für immer besetzt als Tag der Schande des Jahres 1938. Jeder Versuch, ihn als möglichen Nationalfeiertag ins Spiel zu bringen - der 10. November ist ein billiges Ausweichmanöver - muss bei unseren europäischen Nachbarn und darüber hinaus vor allem in Israel, neues Misstrauen in unserer demokratische Reife wachrufen.

Ludwig Mehlhorn

Aus: Demokratie Jetzt, Zeitung der Bürgerbewegung Nr. 8, November 1989