Das Bündnis 90 will nach vorn, nicht in eine politische Ecke

Gast der Gründungsveranstaltung des Landesverbandes Sachsen des Neuen Forum war Dr. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt), Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow. SZ führte mit dem gebürtigen Bad Gottleubaer, der in Dresden aufwuchs, das folgende Pausengespräch:

SZ: Mit dem Bündnis 90, bestehend aus den Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative für Frieden und Menschenrechte - sie haben die Wende im Land maßgeblich in Gang gebracht -, stellt sich eine weitere Gruppierung dem Wähler. Wer bringt was ein?

Dr. Ullmann: Ich denke, das Neue Forum den Gedanken, die gesellschaftlichen Angelegenheiten alle öffentlich zu regeln, der mit dem Begriff Dialog gefasst wird, mit dem ja in kurzer Zeit so viel erreicht wurde. Zum anderen ist es der Gedanke der Verwirklichung der Menschenrechte, dem sich eine eigenständige Initiative verschrieben hat. Unsere Bürgerbewegung macht sich vor allem für die demokratischen Belange des Volkes stark, nach dem Prinzip: Einmischen in die eigenen Angelegenheiten.

SZ: Werner Schulz, Vertreter des Neuen Forum am Runden Tisch in Berlin, sagte, Bündnis 90 wolle weder nach rechts noch nach links, sondern nach vorn als Bündnis der Bürger für die Bürger, ohne Einordnung in irgend eine politische Ecke.

Dr. Ullmann: Das trifft den Kern.

SZ: Andere Wahlbündnisse wie "Allianz für Deutschland" oder das liberale werden mächtig gefüttert von der BRD. Baut sich da nicht neue Chancenungleichheit auf?

Dr. Ullmann: Ich glaube nicht. Ungleichheit bestand schon immer. Neu ist, dass diese Bündnisse jetzt so stark in den BRD-Wahlkampf einbezogen werden. Ich bezweifle, dass das ein Vorteil ist, denn es gibt viele DDR-Bürger, denen das gar nicht gefällt.

SZ: Die Bürgerbewegungen sind im Herbst für Dinge auf die Straße gegangen, die relativ schnell Wirklichkeit wurden. Heute beherrschen ganz andere Themen die Straße. Wie schätzen Sie den Verlauf dieser Revolution ein?

Dr. Ullmann: Es ist eingetreten, was voraussehbar war. Mit der Grenzöffnung, die schneller kam als wir alle dachten, kam natürlich das große politische und wirtschaftliche Übergewicht der BRD zum Tragen, an dem sich jetzt so viele orientieren. Unnatürlich ist, wie bestimmte BRD-Politiker versuchen, ihre Wahlkampfinteressen hier im Lande zu verfolgen.

SZ: Es ist Unsicherheit unter den Bürgern. Was können Sie, Herr Minister, den Leuten sagen, die vor den Sparkassen Schlange stehen?

Dr. Ullmann: Nicht so nervös zu werden. Es ist doch sicher, dass diese Regierung dafür arbeitet, die Bürger vor Schaden zu bewahren. Auch in der BRD würde eine Vergrößerung des Flüchtlingsstroms die Wirtschaft in die Gefahrenzone bringen.

SZ: Sie waren mit in Bonn und haben aus Ihrem Unmut über die Ergebnisse keinen Hehl gemacht. Warum?

Dr. Ullmann: Für kritikwürdig halte ich vor allem die Art und Weise, wie die Bonner Regierung mit der Regierung Modrow umgegangen ist. Das Missverhältnis war so krass, wenn man bedenkt mit welcher diplomatischen Höflichkeit die Regierung Honecker/Stoph von der gleichen BRD-Regierung behandelt wurde und mit welchem Eifer man in Bonn zum Telefon gegriffen hatte, um Herrn Krenz anzurufen. Herrn Modrow gegenüber ist nichts dergleichen geschehen.

SZ: Wie sieht Ihr Fahrplan für die deutsche Einheit aus?

Dr. Ullmann: Wir brauchen schnell ein legitimiertes Parlament, dass ein eigenes Wort unseres Landes dazu zu sagen hat, das sich in der künftigen Verfassung niederschlägt. Außerdem müssen wir die Ergebnisse von "Vier plus zwei" und Helsinki 2 abwarten. Wenn die deutsche Politik nicht unvorsichtige Alleingänge macht, werden wir zu einer föderaler Struktur in den nächsten Jahren kommen. Es geht nicht so schnell, denn auch dir Verwaltungsreform in der DDR ist nicht von heute auf morgen zu schaffen.

SZ: Was hat die DDR einzubringen in die deutsche Einheit?

Dr. Ullmann: Neben all den materiellen Werten, die jetzt gern vergessen werden, sind es wichtige historische Traditionen, auch die Sachsens. Aber auch aus den vergangenen 40 Jahren haben wir die Erfahrung zu vermitteln, was passiert, wenn es zu einer Parteiendiktatur kommt.

SZ: Wie verlautet, werden Sie sich hier im Bezirk zur Wahl am 18. März stellen?

Dr. Ullmann: Ich bin dazu bereit.

(Mit Minister Dr. Ullmann sprach Thomas Schade.)

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 42, 19.02.1990, 45. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur, Herausgeber: Verlag Sächsische Zeitung

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