Artikel 23
Kein Anschluss unter dieser Nummer war der Wahl-Slogan für "Demokratie Jetzt", heute integriert in "Bündnis 90". Gemeint war der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik über Artikel 23. Wir hielten es für keinen möglichen Weg. Und zwar alle, ich nicht ausgenommen. Ich bin auch heute noch der Meinung der bessere Weg wäre der Weg über den Artikel 146 gewesen. Es war keine Frage für mich, für "Demokratie Jetzt" und später fürs "Bündnis 90", dass wir die Einheit wollen, aber wir wollten sie als einen politisch gestalteten Prozess. Dafür hätte die Vereinigung über Erarbeitung einer neuen deutschen Verfassung die besten Voraussetzungen geboten. Das war auch Inhalt unter anderem des Dreistufenplans zur deutschen Einheit, den wir im Dezember vorgelegt hatten. Wir sind damals davon ausgegangen, dass die Einigung sich in einem viel langsameren Tempo vollzieht, als wir das heute erleben. Dass nun ausgerechnet eine Gruppe von Abgeordneten aus dem "Bündnis 90" mit Unterstützung von einigen CDU- und SPD-Abgeordneten einen Antrag auf schnellen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes stellt, hat einen einfachen Grund: Zwischen dem 18. März 1990 und dem 17. Juni 1990, jenem Tag, an dem wir unseren Antrag vortrugen, hat sich die politische Landschaft erheblich verändert, und es zeichnete sich ab, dass die Verfassungsgrundsätze, die unsere Verfassung von 1968 weitgehend außer Kraft setzen, angenommen würden. Das Treuhandgesetz zum Beispiel konnte nur nach Außerkraftsetzen der Verfassung angenommen werden, gleiches gilt für den Staatsvertrag, der gerade verabschiedet ist. In dieser Situation, in der durch die satten Mehrheiten der Koalitionsparteien der DDR und den massiven Einfluss der CDU/CSU in Bonn der politische Weg zur Einheit markiert ist, war unser Vorstoß ein letzter Versuch, doch noch zu einem in unserem Sinne gestalteten Weg zu kommen.
Der Anschluss nach Artikel 23 muss unserer Meinung nach unter Berücksichtigung aller alliierten Rechte geschehen, sollte die Absicht verankern, zusammen mit den anderen europäischen Staaten eine Friedensordnung für Europa gemäß den Prinzipien der KSZE-Schlussakte zu verwirklichen. Alle gegenwärtig zwischen der DDR und anderen Staaten oder Staatengruppen bestehenden Abkommen sollten von dieser Erklärung unbeeinflusst bleiben. Ferner war in unserem Antrag die Absicht für die Regierung der DDR und die Volkskammer erklärt, spätestens neunzig Tage nach Annahme dieses Antrages eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, eine gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten und durch Volksentscheid zu verabschieden. Wir haben diesen Antrag in Wahrnehmung der Rechte der noch nicht bestehenden Länder gestellt, mit der Maßgabe, dass diese Länder innerhalb von 120 Tagen nach Abgabe der Erklärung zu bilden sind, und wir haben ihn gestellt unter strikter Wahrung der Menschen- und Eigentumsrechte, so wie sie am Tage der Abgabe dieser Erklärung bestehen. Kein Einschwenken auf die Vorstellungen der CDU/CSU und SPD also, sondern der Versuch, doch noch einzubringen, was in der DDR an politischer Realität vorhanden ist. Den Einmarsch über den Artikel 23 können wir als kleine Oppositionsgruppe nicht verhindern. Mein Antrag sollte unsere politischen Inhalte festklopfen, und damit auch die Wahlaussagen, die wir vor dem 18. März getroffen haben, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger retten. Es gibt Rechte und Einrichtungen, die durchaus mit dem alten Wort Errungenschaften bezeichnet werden können. Man muss sich zwar genau ansehen, was wirklich diesen Namen verdient, aber natürlich gibt es da eine ganze Menge. Dazu gehört das Recht auf Arbeit, das in unserer Verfassung festgeschrieben ist, dazu gehören außenpolitische Aspekte, ich denke an die selbstverständliche Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze, dazu gehört der feste Wille, mit diesem Teilstaat zur Abrüstung beizutragen. Marianne Birthler, eine der Sprecherinnen der Fraktion "Bündnis 90/Grüne", hat in einer Zusammenkunft mit den Grünen der Bundesrepublik gesagt, es wird für uns keinen Anschluss nach Artikel 23 geben, eine Aussage, die sich ja erst einmal ganz anders anhört als das, was ich gesagt habe. Es hat einen sehr langen und sehr ausführlichen Meinungsbildungsprozess in der Fraktion gegeben, es hat im Anliegen einen Konsens gegeben, aber einen Dissens in der Anwendung des Mittels. Daraufhin haben wir sechs Abgeordneten der Fraktion, die den Antrag getragen haben, uns entschlossen, die Initiative zu ergreifen. In einer Fraktion ohne Fraktionszwang sind solche Mittel möglich ohne hektische Auseinandersetzung oder Gefährdung der Fraktionseinheit. Den Zustand einer faktischen Rechtlosigkeit mit dem Grundgesetz zu überspringen schien mir eine Möglichkeit. Jetzt ist es so, dass die Verfassungsgrundsätze, die mit der knappen Mehrheit von zwei Abgeordneten angenommen wurden, eine weitgehende Ermächtigung der Regierung bedeuten, Gesetze nach ihrem Belieben zu gestalten und in der Volkskammer verabschieden zu lassen. Diese Gesetze können zum Teil verfassungsrechtlichen Charakter haben. Zum Beispiel der Staatsvertrag, er bedeutet de facto eine Veränderung der verfassungsrechtlichen Situation in der DDR. Auch das Treuhandgesetz, es hätte ohne Verfassungsänderung gar nicht verabschiedet werden können, denn es bedeutet die Enteignung von wahrscheinlich 1 000 Milliarden DM Volksvermögen. Dieses Volksvermögen soll nun nicht, wie es unsere marktwirtschaftlich und sozial verträgliche Konzeption gewesen wäre, der Vermögensbildung der Bürgerinnen und Bürger dienen und damit zur Schaffung neuer Unternehmen beitragen, sondern es wird vorrangig zur Strukturanpassung verwendet werden, vor allem aber, und dagegen muss man wirklich erhebliche Einwände haben, zur Haushaltssanierung. Das heißt, aus dem Volksvermögen wird, so ist es festgeschrieben, der Haushalt der DDR entschuldet, Offenbar hat die Regierung das Bestreben, die DDR der Bundesrepublik schuldenfrei zu übergeben. Niemand beachtet dabei den Umstand, dass es in der Bundesrepublik eine weit höhere Pro-Kopf-Verschuldung gibt als in der DDR, dass die Bundesrepublik Deutschland mit etwas mehr als 800 Milliarden D-Mark verschuldet ist. Wenn wir schuldenfrei in die Einigung gingen, müssten wir deren Schulden übernehmen. Nach unserem Vorschlag aber wäre die Bundesrepublik Deutschland sofort verpflichtet gewesen, der DDR Haushaltsmittel nach dem Länderausgleichsgesetz zukommen zu lassen, alle Rechte und Pflichten der Bundesbürger hätten auch für die Bürger der DDR gegolten. Was jetzt für den Staatsvertrag und insbesondere den Teil, wo es um die sozialen Rechte geht, festgeschrieben wird, ist keine lückenlose Übernahme des bundesdeutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialrechts. Die Lücken sind überall da, wo es dem DDR-Bürger oder der Bürgerin von Nachteil ist.
Die Regisseur Konrad Weiß fühlt sich im Augenblick also nicht so sehr als Regisseur, so ist halt die Rolle der Opposition. Wenn ich meine grünen Freunde aus dem Bundestag höre, so geht es ihnen da ähnlich. Aber als Statist, der sich hin- und herschieben lässt, sehe ich mich auch nicht. Ich versuche mit meinen Mitteln, im Parlament, in der Öffentlichkeit, im Gespräch eine gute Rolle zu spielen.
Für mich war interessant, dass zwei der Initiatoren der großen Demonstration vom 4. November spontan in der Nacht, nachdem ich den Vorschlag machte, anriefen und mich gefragt haben, ob sie nicht eine zweite große Demonstration mit 500 000 Leuten organisieren sollten . . .
Sonntag, Nr. 27, Unabhängige Wochenzeitung für Kunst und modernes Leben, So. 08.07.1990