Es gab kein politisches Konzept für die Nation

Wolfgang Ullmann, Volkskammerabgeordneter von Demokratie Jetzt, über die letzten Tagen der DDR

INTERVIEW

taz: Amputiert sich die DDR als Rest-Staat jetzt selbst?

Wolfgang Ullmann: So traurig es ist, in solchen Fällen recht zu behalten: Das Bündnis 90/Grüne hat das ja vorausgesagt am Beginn der Parlamentsperiode. Und wir haben durch die Befragung der Minister zu zeigen versucht, was da auf uns zukommt an Inkompetenz. Und nun hat der Ministerpräsident just den Minister gefeuert, der besonders kompetent ist...

Romberg...

...und der die Probleme genau kennt. Aber es ist ja bekannt, wie Herr Waigel Herrn Romberg in der Öffentlichkeit zu behandeln liebte. Es ist erstaunlich, welche Umgangsformen westdeutsche Politiker für angebracht halten. Man kann nur sagen: Die Inkompetenz wird dort angesichts dieses Fiaskos in nicht geringerem Maße offenbar als die bestimmter DDR Minister. Wir haben immer gesagt, dass Herr Pohl von Wirtschaft so viel versteht, dass er schon einen großen Betrieb in diesem Lande ruiniert hat. Jetzt von "Laienspieltruppe" zu reden, das geht voll zurück an die Bonner Adresse.

Sie meinen die Bonner Wirtschaftspolitik?

Was haben sie sich denn ausgedacht bei diesem Staatsvertrag? Wir haben immer gesagt: Wer eine Währungsunion mit solchen groben finanztechnischen Schnitzern auf die Bahn bringt, der wird dieses Fiasko organisieren. Wir haben heute lange über die Frage gesprochen, ob die Organisation dieses Fiaskos nicht doch einem gewissen Plan gehorcht...

Ist das nicht fatal für die Zukunft des vereinten Deutschland?

Vielleicht kann man das Ärgste doch noch verhindern. In der Bonner Rechnung ist nämlich ein so großer Fehler, dass es auch für Bonn und die westdeutschen Länder anfängt, gefährlich zu werden.

Was bleibt als Selbstbild der Nation bei dieser Art Vereinigung?

Wie man sieht, hat es höchst nebulöse Vorstellungen in den Köpfen der Politiker gegeben bei dem Wort Nation. Da hat man gesagt: Nation, das sind wir halt alle. Aber es gab kein politisches Konzept. Der Versuch, die deutschen Länder, die immer bestanden haben, die auch sofort wieder zutage traten, als dieses künstliche Gebilde der SED-Verwaltung in sich zusammensank, diese Länder zu einem Nationalstaat zusammenzimmern zu wollen. Bisher ist das immer misslungen und hat grässliche Folgen gehabt. Nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Nachbarn. Man kann eben nur eine Staatsform realisieren, in der diese Länder in gleichberechtigter Form sich organisieren mit einer Verfassung, die einem Bund deutscher Länder entspricht. Aber die Bundesrepublik hat kein politisches Konzept außer dem primitiven Gedanken: Ja, wir gliedern diese fünf DDR-Länder der Bundesrepublik an.

Wird auf dem Tiefpunkt der Wirtschaftskrise und der politischen Moral die Frage einer neuen Verfassung und Verfassunggebenden Versammlung wieder aktuell?

Ich bin skeptisch, ob die Katastrophe die Leute zur Vernunft bringt.

Ist die Wirtschaftskrise vermeidbar?

Sie war vermeidbar. Es gab finanzpolitische Konzepte, eine Konvertibilität der Währung. Damals haben alle geschrien: Es dauert viel zu lange. Aber jetzt dauert's noch länger, bis wir aus diesem Fiasko heraus sind.

Ist die Katastrophe jetzt noch vermeidbar?

Wenn man bestimmte Gesetzesinitiativen ergreift, könnte man bestimmt noch einiges retten.

Welche Gesetzesinitiativen?

Das erste ist ein Entschuldungsgesetz. Selbst marktfähige Betriebe sind nicht mehr liquide, weil sie durch riesige Schulden aus dem verrückten Wirtschaftssystem von vorher erdrückt werden. Die stehen in ihren Bilanzen, und dazu kommen nun die Zinsen. Das ist doch eine wahnsinnige Politik. Der Ressortleiter Wirtschaft der Dresdener Bezirksregierung hat uns berichtet: Wenn wir so weiter machen wie bisher, schaffen wir es, das Wirtschaftsleben des ganzen Landes zum Erliegen zu bringen.

Ich habe damals, nach der Regierungserklärung, sofort den Finanzminister Romberg angerufen und gesagt, Herr Romberg, das geht doch nicht. Das hätte man vor der Währungsunion machen müssen. Er hat mir spontan zugestimmt und gesagt, das ist natürlich Unsinn, was da in der Regierungserklärung steht. Aber er hat sich auch da nicht durchsetzen können.

Auch 60 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe sind nicht mehr liquide...

Ja, aus demselben Grund. Die Krise der Landwirtschaft hängt genauso damit zusammen, dass man unser verrücktes Handelssystem nicht vorher umstrukturiert hat.

Wird diese Woche noch ein Entschuldungsgesetz in die Volkskammer eingebracht?

Wir sind dabei, so etwas auszuarbeiten. Wir müssen zudem ein Eigentumsrahmengesetz verabschieden, in dem das Eigentumsrecht unserer DDR-Verfassung, also Artikel 10 bis 12 außer Kraft gesetzt wird. Und dann kann man die Kriegsfolgen aufarbeiten und den Lastenausgleich regeln. Das wird auch vor sich hergeschoben...

...das sind alles Versuche, die DDR noch mal neu anzustreichen und nicht nur den Konkurs abzuwickeln...

Ja. Zusätzlich zur Eigentumsordnung müssten die Grundbücher mit einem Stichtag neu geschrieben werden.

Die Oppositionsparteien könnten das alles tun, sie haben ja inzwischen eine Mehrheit in der Volkskammer.

Na, das ist nicht so sicher, weil die LDP in wesentlichen Dingen doch mit der CDU gemeinsame Interessen hat.

Was treibt eigentlich den Lothar de Maizière?

Ich kenne Herrn de Maizière lange, und halte ihn für eine integre Persönlichkeit. Er hat versucht, dieser Verantwortung, die er sehr ungern übernommen hat, gerecht zu werden. Aber er hat eben eigentlich alle Schlachten verloren. Die wichtigste war die, ob er oder Herr Krause das Sagen hat. Und die hat er verloren...

Staatssekretär und Staatsvertrags-Chefunterhändler Günter Krause lenkt die Regierungspolitik seit Monaten?

...und das heißt, dass es Herr Schäuble ist. Das ist ganz klar. Herr Schäuble geht doch bei Herrn Krause ein und aus. Ich möchte nicht wissen, ob sie sich mittlerweise auch duzen.

Was wird in fünf Jahren von der DDR übriggeblieben sein?

Das hängt davon ab, wie funktionsfähig die Länder sind. Die Frage, um die jetzt gestritten werden muss, ist: Werden die DDR-Länder gleichberechtigt neben den Ländern der Bundesrepublik sein, oder werden sie in einem gedrückten Rechtsstatus unter die Bundestreuhandschaft genommen. Das ist der Plan der Bundesregierung, weil sie das Konzept einer autoritär-zentralistischen Staatsmacht vertritt.

Interview: Klaus Wolschner

die tageszeitung, Ausgabe 3191, Do. 23.08.1990

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