Gesamtdeutsche Verfassungsdebatte statt Wahlkampf

Professor Wolfgang Ullmann ist Kirchenrechtler und als Vertreter von "Demokratie Jetzt" Minister ohne Geschäftsbereich im Ministerkabinett von Hans Modrow

I N T E R V I E W

taz: Mit der Ankündigung der Währungsunion scheint sich jetzt in der Bundesrepublik die Meinung durchzusetzen, dass es im Grunde für die DDR und für die Einheit das Beste sei, wenn auch das Grundgesetz von der DDR übernommen werde. Wie sehen Sie das?

Wolfgang Ullmann: Diese Tendenz erregt bei uns zunächst einmal schon deswegen Widerstand, weil sie von der Bundesrepublik ausgeht und nicht von der DDR. Es ist eine Einwirkung von außen. Man muss immer wieder daran erinnern, dass die Bewegung der Demokratisierung hierzulande keineswegs von der These ausging, die DDR brauche so etwas wie das Grundgesetz, sie entsprang vielmehr dem Widerstand gegen die ideologische und politische Diktatur der SED. Sie war getragen - das muss man heutzutage ganz besonders betonen von sozialistischen Motiven. Die Demokratiebewegung in der DDR begann schließlich damit, dass sie die Realität der DDR an den humanistischen Grundimpulsen des Marxismus maß.

Das heißt: das Grundgesetz-Angebot widerspricht der DDR-Entwicklung fundamental?

Ja. Es ist ganz und gar nicht organisch, gewissermaßen das Grundgesetz als Telos der Demokratisierung der DDR zu definieren.

Der Hinweis auf die Genese stärkt aber Ihre Position noch keineswegs!

Sicher. Aber ich will ja darauf hinaus: Die Umgestaltung und Revolutionierung des Landes ging von Bürgerinitiativen aus. Das ist nun der erste Punkt: Die fundamentale Rolle von Bürgerinitiativen, von Basisbewegungen ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Ich finde außerdem im Grundgesetz keine Andeutung der Erfahrung der Entfremdung, die wir gemacht haben. Das erneuert für mich noch einmal die Einsicht, die sich bei mir schon in den fünfziger Jahren entwickelt hat: dass die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts nicht mit den Mitteln des politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu bekämpfen sind. Sie sind ja überhaupt nur entstanden, weil der politische Liberalismus gescheitert ist. Das ist die gemeinsame Erfahrung aller Widerstandsbewegungen in Osteuropa.

Übernahme des Grundgesetzes heißt also für Sie, einen gesellschaftlichen Rückschritt zu kodifizieren?

Ja. Es hieße, sich auf eine Verfassungsgrundlage zu stellen, die nicht aus unseren Erfahrungen stammt, die - bei allem Respekt dem Grundgesetz gegenüber - doch ungenügend die Erfahrungen der totalen Inhumanität reflektiert. Man hat mir meinen Ausspruch, das Grundgesetz sei eine verbesserte Weimarer Verfassung, furchtbar verdacht.

Ich kenne natürlich die Unterschiede. Gemeinsam ist aber der politische Liberalismus, der blind ist gegenüber der Inhumanität des 20. Jahrhunderts. So, wie die Weimarer Verfassung nicht die Erfahrungen des 1. Weltkrieges aufnahm, nahm auch das Grundgesetz nicht die Erfahrungen des Nationalsozialismus auf.

Was heißt das - die Erfahrungen der totalitären Diktaturen aufnehmen?

Natürlich hat das Grundgesetz das Verdienst, diesen Grundrecht-Katalog niedergelegt zu haben. Aber ich glaube, dass die Erfahrungen der Diktaturen dazu führen müssen, dass die Grundrechte der Bürger in den allgemeinen Menschenrechten fundiert werden muss. Genau das steht im Zentrum des Verfassungsentwurfes des "Runden Tisches". Das eben wollen wir in die gesamtdeutsche Verfassungsdebatte einbringen.

Was heißt das?

Die Fundierung in den Menschenrechten besagt für mich: Wenn wir jetzt eine Verfassung schreiben, dann tun wir es in einem Horizont, der einerseits bestimmt ist durch die UNO-Charta und andererseits durch den Helsinki-Prozess. Eine deutsche Verfassung heute muss diese Bezugspunkte haben.

Nun wird in der Bundesrepublik jetzt gern damit argumentiert, einen Prozess der Verfassungsgebung mit der DDR anzustrengen, sei höchst fragwürdig, denn es gebe in der DDR schließlich keine Verfassungskultur . . .

Nun, das ist gleichbedeutend mit dem Antrag zur Disqualifikation für unser einen. Wir haben nun Jahrzehnte Widerstand geleistet und gehen doch davon aus, dass das respektiert wird. Unsere Erfahrungen sind doch relevant auch für die Bundesrepublik!

Abgesehen von der Fundierung der Grundrechte in den Menschenrechten - was wäre denn sonst der spezifische Beitrag der DDR zu einer gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion?

Nun, die Verankerung der Bürgerbewegungen in der politischen Willensbildung.

Also plebiszitäre Elemente . . .

Ich liebe dieses Wort nicht, weil es missverstanden werden könnte, als ob an eine Konkurrenz zu den Parteien gedacht sei. Ich verstehe sie als sinnvolle und notwendige Ergänzung. Zwar haben die Parteien noch einen Sinn, auch langfristig; aber auch in der Bundesrepublik ist durch die breite Tendenz zur Selbstorganisation - man denke nur an die Durchdringung von Ökologie und Ökonomie - eine ganz neue Dynamik entstanden, die sich auch in einer Verfassung widerspiegeln müsste. Eine direkte Information von Exekutive und gesellschaftlicher Basis ist heutzutage notwendig. Das ist nicht nur eine DDR-Erfahrung.

Es erhebt sich aber die Frage, ob diese Arbeit an einer neuen Verfassung, so überzeugend auch die Argumente sein mögen, nicht letztlich eine Arbeit für den Papierkorb ist. Eine verfassungsgebende Versammlung muss erzwungen werden; mithin muss die DDR mit einer politischen Autorität sprechen können.

Nun, die Verfassungsdebatte hat in der DDR schon begonnen. Ich habe den Eindruck, dass die Unsensibilität einer ganzen Reihe von westdeutschen Politikern progressiv gewirkt hat, also dazu beigetragen hat, dass jetzt die DDR-Bevölkerung sagt, wir haben auch eigene Interessen . . .

Hatte der Modrow-Besuch in Bonn eine derartige "progressive" Wirkung?

Das ist mein Eindruck.

Was wären denn die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Verfassungsdebatte?

Das erste Kriterium wäre: eine wirklich klare Aussage zum gemeinsamen politischen Ziel der beiden deutschen Staaten. Zweitens: Es müsste so etwas wie einen klaren Willen geben, die erhaltenswerten Traditionen von beiden Seiten zur Geltung zu bringen. Es muss von beiden Seiten darauf bestanden werden, dass es natürlich Kontinuitäten geben muss.

Gibt es denn die Errungenschaften, die politische Identität DDR, die den Zusammenbruch des Realsozialismus überlebt haben und die - getragen von dem Willen der Bevölkerung - in die Verfassungsdebatte eingebracht werden können?

Ich glaube, dass jetzt erst der Prozess begonnen hat, in dem sich eine DDR-Identität artikuliert. Die SED hatte ja Konstruktionen vom "Staatsvolk" DDR, die niemanden so recht überzeugt haben. Solange die Identität durch Mauer und Stacheldraht konsolidiert wurde, war sie im Grunde politisch nicht existent. Aber nun erst merkt man, dass 16 Millionen DDR-Bürger da sind. Sie sind doch da. Sie haben ihre eigene Geschichte. Sie kann sich jetzt erst - unideologisch formulieren. Sie formuliert sich, logischerweise, indem sie die Länderidentitäten wieder herstellt, gegen den SED-Zentralismus. Hier ist ein starker föderalistischer Impuls für eine neue Verfassung.

Wie könnte denn nun die DDR eine gesamtdeutsche Verfassungsdebatte initiieren?

Nun, nach der Wahl könnte die Volkskammer sich an den Bundestag wenden, um eine gemeinsame Arbeitsgruppe zur Vorbereitung einer verfassungsgebenden Versammlung zu bilden. Es wäre zu überlegen, ob man nicht den Wahltermin in der BRD vorverlegen müsste in dieser Frage. Es wäre gut und richtig, wenn die Verfassungsdiskussion zum Thema des Wahlkampfes würde. Von beiden Parlamenten müsste dann die Initiative zu einem Volksentscheid über eine verfassungsgebende Versammlung ausgehen.

Was wäre die Frage des Volksentscheides?

Wahrscheinlich die Frage nach der Zustimmung zu einem Bund deutscher Länder und nach der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.

Müssten denn nicht die DDR-Gruppierungen auch in der BRD politisch aktiv werden, um in dieser Frage erfolgreich zu sein?

Ich kann nur Konrad Weiß zustimmen, der kürzlich von der Möglichkeit sprach, dass "Demokratie Jetzt" sich auch auf die Bundesrepublik ausdehnen sollte.

Interview: Klaus Hartung

die Tageszeitung, Sa. 03.03.90

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