Konrad Weiß, Sprecher der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, im ND-Interview

"Wir sind im Augenblick so furchtbar deutschzentrisch"

Herr Weiß, man "kennt" Sie. Dennoch zunächst unsere profane Frage nach Alter, Beruf, Familienstand . . .

Ich bin 48, verheiratet, habe drei erwachsene Töchter und zwei Berufe: Elektromonteur gelernt, dann auf der Volkshochschule Abitur gemacht und von 1966 bis 1969 in Babelsberg Regie studiert. Seit 1969 Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme: vorwiegend Filme für Kinder und Jugendliche; seit 78 war ich beim Bund der Evangelischen Kirche im Medienbeirat. Ehrenamtlich.

Gehörten Sie je einer Partei an?

Nie.

Die "fröhliche Revolution" des Herbstes 89, an der Demokratie Jetzt einen wichtigen Anteil einen hatte, ist einer deutlichen Radikalisierung gewichen. Beunruhigt?

In der gegenwärtigen Entwicklungsphase ist es nur natürlich, wenn sehr viele politische Parteien und politische Vereinigungen entstehen. Ich halte es für normal, dass es darunter auch solche gibt, die entweder zur Linken oder zur Rechten hin extrem oder auch radikal sind. Die Grenze des Erträglichen ist für mich die Bejahung von Gewalt als politisches Mittel.

Ist es korrekt, dass Demokratie Jetzt der Vater des Runden Tisches ist?

Ja, das ist schon korrekt.

Am zentralen Runden Tisch ist Demokratie Jetzt durch besonders eindringliche Plädoyers für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufgefallen. Woher rührt diese Sensibilität?

Ich denke, dass gerade Dr. Wolfgang Ullmann da sehr viel an politischer Kultur eingebracht hat. Er ist ein Demokrat durch und durch. Kirchenhistoriker von Hause aus, hat er sich sehr intensiv beschäftigt mit demokratischen Modellen und Verfassungen. Das hat er so verinnerlicht, dass das auf alle anderen am Runden Tisch ausstrahlt.

Die Gründungsväter und -mütter von Demokratie Jetzt haben zumeist einen christlichen Hintergrund. Für welche Werte steht Ihre Bürgerbewegung?

Für eine solidarische Gesellschaft, eine sozial und ökologisch verankerte Marktwirtschaft und in gleicher Weise eindeutig für die deutsche Einheit. Allerdings nicht für eine Einheit, die ein Aufgeben all dessen bedeuten würde, was wir hier in 40 Jahren gelebt und gearbeitet haben, sondern eine Einheit, in der wir uns einbringen können.

Was von uns wäre das vor allem?

Eine neue demokratische Kultur. Der Gedanke der Bürgerbewegung ist in der Bundesrepublik nicht in dem Maße erhalten geblieben, wie er sich jetzt bei uns gezeigt hat. Unsere spezifische DDR-Geschichte und Identität ist ebenfalls einzubringen. Ich will keinen Tag Null, von dem an ich jetzt Bundesbürger oder sonst was bin, sondern ich bin Deutscher, der in diesem Deutschland groß geworden ist. Dieses Deutschland hat mich geprägt, hier habe ich meine Kämpfe, und auch Erfolge gehabt. Ich habe hier meine erste Liebe gehabt und etwas, woran ich hänge. Das alles ist Heimat. Und ich möchte, dass wir auf dem Weg in ein größeres Deutschland dieses Heimatgefühl nicht aufgeben. Ich möchte nicht, dass wir zu Emigranten im eigenen Land werden.

Aber DDR konkret heißt doch: Schlangen an Sparkassen, noch immer viel zu viel Möbelwagen Richtung Westen, Haben wir noch eine eigene Identität?

Die DDR ist schwer angeschlagen. Ganz zweifellos, auch die Wirtschaft ist marode. Auch wenn die vor einer Woche lancierte Meldung von der Zahlungsunfähigkeit der DDR sich als hohles Ei erwiesen hat. Wir brauchen einen Neubeginn. Aber man muss jeden Menschen, der hier lebt, ermutigen, hier zu bleiben. Das was er hier hat, seine Heimat, diese emotionalen Wurzeln, die findet er so schnell woanders nicht wieder.

Und trotzdem: Fasst der Begriff "Anschluss" das reale Geschehen nicht genauer?

Ich glaube, dass in der Bundesrepublik die CDU und wirtschaftliche Kreise hinter ihr sehr darauf erpicht sind, diesen Anschluss zu realisieren. Aber man muss natürlich darauf hinweisen, dass auch für die Bundesbürger die Einheit nicht zum Null-Tarif zu haben ist. Eine andere Sache ist uns ganz wichtig. Wir müssen unbedingt sichern, dass es, bevor es zur Einigung kommt, uns der Bestand an Grund und Boden in der DDR, der Bestand an Immobilien, an Produktionsmitteln, an Produktionsgebäuden usw., usf. verbleibt, damit nicht, wie es ja schon passiert, irgend jemand, dem das Haus gehört hat vor vierzig Jahren, jetzt ankommt und sagt, das ist meins. Wir brauchen Rechtssicherheit für die Menschen, gerade wenn es schnell zu einer Währungsunion kommt wogegen wir übrigens sind.

Stichwort 18. März [Volkskammerwahl]. Ihre Prognose?

Das ist im Augenblick außerordentlich schwierig. Meine Hoffnung ist, dass es eine Mehrheit für die Sozialdemokratische Partei gibt, aber keine absolute Mehrheit. Es wäre meine Vorstellung, dass es zu einer SPD-geführten Regierung kommt, an der wir beteiligt sind und - im Rahmen des Wahlbündnisses 90 - den ganz spezifischen Aspekt der Bürgernähe mit einbringen können.

Die SPD wäre für Sie der denkbare Koalitionspartner?

Wir haben definitiv gesagt, wir sind nicht bereit, eine Koalition mit den alten Parteien einzugehen.

Die PDS - für Sie alte oder neue Kraft?

Für mich zählt sie, auch wenn sie einen neuen Namen hat, zu den alten Parteien. Ich glaube, dass der Erneuerungsprozess, in dem sich die jetzige PDS befindet; noch Jahre dauern wird. Auch wir haben diesen Gärungsprozess vor uns. Ich schließe mich da überhaupt nicht aus. Das ist eine notwendige Trauerarbeit.

Keine Koalition mit PDS, was ist mit Zusammenarbeit?

Ich habe von Anfang an gesagt, dass für mich Sachverstand zählt. Ich bin keiner, der sagt, nur weil der Mann oder die Frau in der SED gewesen ist, sollen sie ihre Arbeit verlieren.

Wird Ihr Regiestuhl nach dem 18. März im Studio oder in Regierungsstuben stehen?

Das müssen die Wähler entscheiden. Ich habe mir vorgenommen, vier Jahre zur Verfügung zu stehen, eine Legislaturperiode, weil ich denke, es ist eine wichtige Zeit. Drei Gebiete interessieren mich. Das eine wäre ein Ministerium, das man vielleicht Deutschland-Ministerium nennen könnte: Das andere wäre eine Ministerium für solidarische Zusammenarbeit, das brauchen wir unbedingt. Wir sind im Augenblick so furchtbar deutschzentrisch. Am liebsten wäre mir das Mandat für ein Ministerium für Abrüstung und Verteidigung. Da würde ich dafür sorgen, dass ich möglichst schnell wieder Filme machen könnte, weil es dieses Ministerium schon bald nicht mehr geben sollte.

Gesprächspartner Renè Heilig, Reiner Oschmann

aus: Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 42, 19.02.1990, Sozialistische Tageszeitung. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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