Der Kongress von der Basis aus gesehen

Siegfried W(...) ist IG-Metall-Delegierter aus Dresden, Lutz S(...) ist Delegierter der IG Transport und Verkehr

taz: Sie sind unzufrieden mit dem Verlauf des Kongresses?

W(...): Ja. Das was hier läuft, entspricht nicht der Erwartung meiner Kollegen von der Basis. Die Gewerkschaft kann nicht erneuert werden, wenn eine Leitung gewählt wird, die kaum zulässt, dass die Basis in Zukunft dominiert.

S(...): Wir haben hier den Auftrag, grundsätzliche Fragen zu klären. Es drängt sich uns aber der Eindruck auf, dass schon wieder von oben nach unten bestimmt wird, wie der weitere Weg aussehen soll.

Heute Morgen sind von der Basis spontan weitere Kandidaten für den Vorsitzenden aufgestellt worden. Stimmt Sie das nicht hoffnungsvoll?

W(...): Nicht so ganz. Ich wollte heute Morgen zu Wort kommen, bin aber von den Leuten im Umfeld des Mikrofons praktisch weggepfiffen worden. Ich konnte nicht im Auftrag meiner Basis erklären, dass keine parteilich gebundenen Personen gewählt werden sollen.

S(...): Es gibt noch zu viele positive Emotionen, wenn SED-Mitglieder kandidieren und zu viele negative, wenn Mitglieder aus anderen Parteien, und sei es auch aus der NDPD, kandidieren. Auch wir sind für einen parteilosen Vorstand.

Warum ist Ihnen die Parteilosigkeit so wichtig?

W(...): Ich habe auf den Demonstrationen in Dresden, an denen ich regelmäßig teilnehme, erlebt, dass das Volk genug hat von Parteien. Die Hoffnungen und Träume, die wir haben, wollen wir nicht schon wieder von Parteien in den Gremien verwaltet wissen. Ich konnte diesen Willen meiner Basis hier nicht zum Ausdruck bringen. Unsere Meinung war nicht gefragt, alles war schon ein bisschen manipuliert. Ich anerkenne die Leistung des Vorbereitungskomitees, aber es hat nicht erkannt, was das Volk eigentlich will. Ein Zusammenwachsen beider deutscher Staaten wird unabdingbar sein. Wir brauchen dringend soziale Sicherheit und einen maximalen Schutz. Egal, wann und wie das Zusammenwachsen stattfindet, wird da noch einiges auf uns zukommen Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Da brauchen wir starke Industriegewerkschaften und maximalen Schutz.

S(...): Die Gewerkschaftsmitglieder an der Basis haben die Nase voll von diesem politischen Kleinkrieg zwischen SED und anderen Parteien in der Gewerkschaft. Es ist wichtig, dass sich die Leute im Vorstand nur auf die gewerkschaftliche Arbeit konzentrieren, sonst fallen die wirklichen Probleme der Basis unten durch.

Was sind denn die "wirklichen Probleme der Basis"?

W(...): Die Erwartung in den Betrieben ist: ein anderes Joint-venture-Abkommen. Wir brauchen einen wirtschaftlichen Aufschwung, dass die Leute wieder Hoffnung haben und im Land bleiben - aber wir wollen auch mehr Sicherheit für die Werktätigen in diesen Gesetzen integriert haben. Das muss so schnell wie möglich geschehen, und da brauchen wir vor allem Sachkompetenz in der gewerkschaftlichen Führung.

Auch die Vorstandswahl war wohl nicht so recht vorbereitet?

S(...): Ja. Wir müssen jetzt wahllos irgendwelche Leute wählen, die außer den Einzelgewerkschaften, von denen sie vorgeschlagen wurden, keiner kennt.

Hat dieser Kongress alle Hoffnungen auf eine gewerkschaftliche Erneuerung zerstört?

W(...): Auf jeden Fall brauchen wir eine Urabstimmung über den Namen "FDGB". Zu viele Kollegen können ohne eine Namensänderung kein Vertrauen mehr in diese Gewerkschaften finden.

S(...): Ich hoffe noch sehr auf eine starke Einheitsgewerkschaft. Wir dürfen keine Zersplitterung heraufbeschwören. Dies war ein außerordentlicher Kongress, wir sind noch dabei, Demokratie zu lernen. Auf dem nächsten Kongress im Herbst wird es bestimmt konstruktiver und klarer. Diese Hoffnung besteht bei uns auf jeden Fall.

Interview: Gabriele Sterkel

aus: Taz, 02.02.90

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