Für viele Gewerkschaftsfunktionäre heißt es nach dem Zusammenschluss:

Kein Platz unterm DGB-Dach

Empörung und Proteste über Entlassungen gewählter Interessenvertreter

Das war wohl für alte und neue hauptamtliche Gewerkschafter die Bombe dieser Woche: Alle Funktionäre und Mitarbeiter aus den Zentralen der DDR-Gewerkschaften sollen sich praktisch selbst entlassen, die Gewerkschaften werden aufgelöst. Geharnischte Proteste mancher Einzeigewerkschaften, die dabei sind, auf andere Weise mit ihrem BRD-Partner unter einen Hut zu kommen, sind da natürlich vorprogrammiert. Nach einer gemeinsamen Tagung des Koordinierungsausschusses der IG Textil-Bekleidung-Leder der DDR, der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und der Gewerkschaft Leder der BRD verlautbarten die drei Gewerkschaften in getrennten Erklärungen übereinstimmend : Mit großer Empörung habe man die Mitteilung des Sprecherrates der DDR-Gewerkschaften zur Kenntnis genommen, wonach die Auflösung der Einzelgewerkschaften und die Entlassung der gewählten Gewerkschaftsvertreter sowie der Mitarbeiter bis Ende Oktober festgelegt wurden. In einem vereinten Deutschland werde es eine starke Gewerkschaft Textil-Bekleidung und eine einheitliche Ledergewerkschaft geben, die den Weg des Zusammenschlusses sich von anderen nicht vorschreiben lassen.

"Es zeugt von keinem Demokratieverständnis, wenn nunmehr der Sprecherrat, ohne dazu von uns legitimiert zu sein, Erklärungen abgibt, die dem Willen der fast 540 000 Mitglieder und unserer Partner zuwiderlaufen. Hier wird eindeutig und gesetzwidrig 'von oben' in die Belange unserer freien und unabhängigen Gewerkschaft eingegriffen", heißt es in der Erklärung der DDR-Gewerkschaft. Und die BRD-Gewerkschaft Textil-Bekleidung schreibt u. a.: "Wir Textilgewerkschafter haben von unserer Partnergewerkschaft in der DDR niemals vorauseilenden Gehorsam und selbstlose Unterwürfigkeit eingefordert. Zwischen Düsseldorf und Ostberlin, zwischen den Gewerkschaftszentralen also, sind keine ehrlosen Geschäftchen gemacht worden, mit denen ehemaligen Bonzen geholfen und den vielen ehrlichen Basisarbeitern geschadet worden wäre. Für uns ist klar: Die neuen gewerkschaftlichen Aufgaben in der DDR können wir als GTB für Deutschland unmöglich nur mit dem derzeitigen Personal der GTB der BRD bewältigen."

Wir baten Marianne Sandig vom Sprecherrat der DDR-Gewerkschaften um ergänzende Auskünfte. "Wer dies als einen Aufruf des Sprecherrates zur Auflösung der Einzelgewerkschaften interpretiert, der hat uns missverstanden", erklärt sie. "Doch in vielen Fällen lässt die Praxis nur noch die bloße Übernahme der Mitglieder zu. Unbestritten ist, dass jede Gewerkschaft die Entscheidung über Ihre Zukunft selbst treffen muss. Da dürfen wir uns gar nicht einmischen." Auch sie habe sich vorgestellt, nach demokratisch legitimierten Wahlen neuer Leitungen diesen Weg gleichberechtigter gehen zu können. Aber: Dies sei keine Entscheidung des Sprecherrates gewesen, vielmehr wurde der nun vorgezeichnete Weg so vom DGB diktiert.

Tribüne, Mi. 27.06.1990

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