Interessenvertretung - frei, ohne Dogmen

BGL im Fischwerk mit neuem Vertrauen / Nach der Vollversammlung: Telefongespräch mit Waltraut H(...), Vorsitzende

Wie ich hörte, hat die Vertrauensleutevollversammlung im VEB Fischwerk ihrer BGL erneut das Vertrauen ausgesprochen?

Waltraut H(...): Ja, mit 51 Zustimmungen und fünf Enthaltungen.

Weshalb war denn die BGL einige Tage zuvor überhaupt zurückgetreten?

Waltraut H(...): Es handelte sich offensichtlich um eine Fehlentscheidung unsererseits, die nun von der Vertrauensleutevollversammlung korrigiert wurde.

Worum ging es weiter?

Waltraut H(...): Generell um die Erneuerung der Gewerkschaft konkret in unserem Betrieb. Wir hatten schon vor einiger Zeit 25 Vorschläge an den damaligen Bundesvorstand abgegeben, die sich mit notwendigen Veränderungen im Arbeitsgesetzbuch und in den Satzungen befassten. Inzwischen sind von den Kollektiven weitere Problemkreise angesprochen worden, die nun von zwei gerade gegründeten Arbeitsgruppen aufgenommen und an das Org-Komitee zur Vorbereitung des außerordentlichen Kongresses weitergeleitet werden.

Welche Fragen werden in den Gewerkschaftskollektiven besonders diskutiert?

Zum Beispiel die Themen Treueprämie, Treueurlaub, Erschwernisurlaub.

Wie äußert sich gegenwärtig eine neue Basisdemokratie in ihrer Gewerkschaftsgrundorganisation?

Waltraut H(...): Schon in der Art der Vertrauensleutevollversammlung, die überaus kritisch war. Aber auch zeigte, dass wir in Sachen Demokratie noch im Lernprozess stehen, was sicherlich auf die gesamte Gesellschaft zutrifft. Das beginnt schon mit Verfahrensfragen...

Weitere Kennzeichen der sich entwickelnden Basisdemokratie: Bei eintretenden Strukturveränderungen in unserem Betrieb nehmen die AGL die gewerkschaftliche Neuwahl ausschließlich in die eigenen Hände. Von uns aus wird es keinerlei Reglementierung geben. Oder: Wir haben die Möglichkeit, einen Delegierten zum außerordentlichen Kongress zu schicken. Also stellt jedes der sechs AGL-Bereiche seinen Kandidaten auf. Vom 8. bis zum 13. Januar erfolgt dann die Wahl.

Sprach auch ein staatlicher Leiter zu aufgeworfenen Problemen?

Waltraut H(...): Betriebsdirektor P(...) selbst, u.a. zur Frage des Lohnfondseinsatzes 1989, ein Aspekt, der zuvor in den Kollektiven mit Misstrauen, so kann man es nennen, behandelt wurde. Einer stärkeren Anwendung des Leistungsprinzips wurde allgemein zugestimmt. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellt dabei die Einführung von Produktivlöhnen ab 1. April 1990 dar, ein Prozess, der etappenweise weitergeführt werden muss.

Vor der Versammlung waren die Thesen zum Gewerkschaftsgesetz in der "Tribüne" veröffentlicht worden. Ging man darauf ein?

Waltraut H(...): Natürlich. Was das Streikrecht betrifft, so sprach sich die Mehrheit dagegen aus, hält es politisch für falsch, zumindest in der gegenwärtigen Situation. Ob es in der Zukunft zur Anwendung kommen muss, werden wir sehen.

Worin besteht für die bewährte und nun mit neuem Vertrauen versehene BGL-Vorsitzende der erstrangige Arbeitsauftrag dieser Tage?

Waltraut H(...): Das Wesentliche besteht jetzt darin, die Gewerkschaftsarbeit weiter zu stabilisieren und gleichzeitig zu erneuern, wie es von der Basis gefordert wird. Wir brauchen eine freie, selbständige Interessenvertretung ohne Dogmen. Derzeit nimmt der Betriebskollektivvertrag konkrete Gestalt an. Der Wettbewerb in der alten Form ist passe. Neue Schwerpunkte unserer Tätigkeit müssen her. Und schließlich bin ich selbst noch Mitglied einer zentralen Arbeitsgruppe, die unter der Leitung von Helga L(...) steht und sich in Vorbereitung auf den außerordentlichen Gewerkschaftskongress mit der Neuformulierung von Wahlgrundsätzen beschäftigt.

aus: Fischfang, 1, 11. Januar 1990, 40. Jahrgang, [eigentlich 41. Jahrgang], Betriebszeitung VEB Fischfang und VEB Fischwerk Saßnitz, Herausgeber: VEB Fischfang und VEB Fischwerk Saßnitz

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