Gedanken zu einer neuen Frauenpolitik

Es geht um weit mehr als quotierte Machtbeteiligung

Frauenfragen sind in erster Linie soziale Fragen

Von Heidrun R a d t k e

Beim Nachdenken über einen alternativen Sozialismus werden, ziemlich heftig sogar, auch Frauenfragen diskutiert. Mit Forderungen nach Quotenregelungen und mehr Machtbeteiligung von Frauen ist jedoch dem eigentlichen Problem nicht beizukommen.

Denn hinsichtlich der sozialen Lage der Frauen hat sich ein tiefer Widerspruch auf getan: Einerseits ist da die historische, auch international anerkannte Leistung, dass Berufstätigkeit, Qualifikation, Mutterschaft und gesellschaftspolitische Aktivität für Frauen zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind. Andererseits ist kaum eine andere große Gruppe In unserer Gesellschaft heute so sozial benachteiligt wie die berufstätigen Frauen: Durch ihre berufliche bzw. gesellschaftliche Tätigkeit und Verantwortung für die Familie leisten sie mehr als der Mann, sie verfügen aber nicht annähernd über die gleichen Chancen ihrer Persönlichkeitsentwicklung in der Arbeit und Freizeit.

Ungerechte Unterschiede in Arbeit und Leben

Vielmehr existieren erhebliche ungerechte Unterschiede in der Arbeits- und Lebenssituation von Männern und Frauen: im beruflichen Einsatz und Einkommen, in der Beteiligung an der Politik und an entscheidenden technologischen Innovationsprozessen, in der eigenen physischen und psychischen Reproduktion. Männer und Frauen sind juristisch, aber nicht sozial gleichgestellt, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass allgemeine gesellschaftliche Prinzipien, z. B. das Leistungsprinzip, unterschiedlich und zum Nachteil der Frauen realisiert werden. Indem besonders junge Frauen mit Familie als soziale Belastung von Arbeits- und Betriebskollektiven empfunden werden, entwickeln sich sogar neue Formen von Diskriminierung.

Diese soziale Benachteiligung abzubauen, darin müsste heute der Anspruch einer neuen Frauenpolitik bestehen. Sowohl in der Realität als auch im konzeptionellen Verständnis von einem lebenswerten Sozialismus geht es um eine historisch neue Qualität der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Sinn einer gleicht berechtigten Teilnahme an allen entscheidenden gesellschaftlichen Prozessen; im Sinne der Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten in den Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eigener Lebenswerte, Bedürfnisse und Interessen; im Sinne eines partnerschaftlichen und solidarischen Verhältnisses der Geschlechter im öffentlichen und privaten Leben; im Sinne der Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung von Mann und Frau bei der Realisierung familiärer Verantwortung. Das schaffen nicht Einzelmaßnahmen. Dazu bedarf es grundlegend neuer Herangehensweisen. Um zu Grundsätzen einer neuen Frauenpolitik zu gelangen, sollten wir in folgenden Richtungen nachdenken:

1. Frauenpolitik sollte den Fraueninteressen und keinen anderen Interessen in der Gesellschaft verpflichtet sein. Dieses selbstverständlich anmutende Verständnis von Frauenpolitik wurde seit 1972 in der Weise durchbrochen, dass mit den vorwiegend für Frauen gedachten sozialpolitischen Maßnahmen vor allem bevölkerungs- und familienpolitische Ziele verfolgt wurden. Die Frau wurde damit zum Objekt gesellschaftspolitischer bzw. anderer Zwecke. Das traditionelle Rollenverständnis von Mann und Frau im Beruf und innerhalb der Familie wurde eher zementiert als aufgebrochen. Nicht die Maßnahmen selbst waren falsch, sondern ihre jahrelange, fast ausschließliche Festbindung an die Frau. Dadurch hat die DDR den historischen Vorlauf, den sie hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung der Frau unter den hochentwickelten Industrieländern bereits weitgehend wieder eingebüßt.

Keine vorgefertigten Lebensweisemuster

2. In der Frauenpolitik sind die Lebensziele, Bedürfnisse und Interessen von Frauen als eigenständige Werte zu begreifen und nicht in Abhängigkeit von der ökonomischen Gesamtsituation zu bewerten. Anderen Gesellschaften machen wir zu Recht den Vorwurf, die Teilnahme der Frauen am Arbeitsprozess von der Arbeitsmarktlage abhängig zu machen. Dabei sind wir, wie es sich beim Umgang mit der Teilzeitarbeit von Frauen zeigt, selbst nicht frei davon. Ökonomische Bedingungen sind als das zu begreifen, was sie im Sozialismus wirklich sind, nämlich Möglichkeiten und Grenzen der Bedürfnisbefriedigung, aber kein Konzept des sozialen Fortschritts.

Damit Frauen nach ihren Vorstellungen leben können, dürfen Ziele der Frauenpolitik nicht durch vorgefertigte Lebensweisemuster bestimmt werden. Das setzt voraus, dass wir uns von einem einheitlichen Frauenbild verabschieden und die differenzierte Entfaltung weiblicher Individualität voll akzeptieren.

3. Frauenpolitik muss Regierungspolitik sein und in dieser Eigenschaft die spezifischen Interessen von Frauen verschiedener Klassen, Schichten, Bildung und Weltanschauung sowie unterschiedlichen Alters und Familienstandes wahrnehmen.

Demokratischer Konsens statt Einparteienpolitik

Frauenpolitik war und ist bis in diese Tage Einparteienpolitik - mit dem Ergebnis, dass die Probleme jener Frauen, die nicht zu den im Verständnis dieser Partei liegenden sozialpolitischen "Haupt"gruppen gehören, wenig Berücksichtigung finden, z. B. Rentnerinnen oder Studentinnen. So existieren heute in der DDR große Gruppen von Frauen, denen nicht annähernd das durchschnittliche Lebensniveau der Bevölkerung gesichert ist - wie die Gruppe der alleinerziehenden Frauen mit wirtschaftlich noch nicht selbständigen Kindern oder unverheiratete Mütter, die sich selbst noch in der Ausbildung befinden und allein kaum existenzfähig sind.

Frauenpolitik lebt davon, wie sich die Frauen selbst für ihre spezifischen Interessen einsetzen bzw. organisieren und wie nach den Prinzipien der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit ein Konsens zwischen den sehr unterschiedlichen Interessen von Frauen unterschiedlicher Lebensauffassungen, -stile und -bedingungen herbeigeführt werden kann. Dazu gehört, dass Gesetze und andere sozialpolitische Maßnahmen in einer breiten Volksaussprache, mit Stimmrecht aller auf dem Boden der Verfassung stehenden Frauenorganisationen, -kommissionen und -initiativen, entstehen und flexibel anwendbar sind.

Kindererziehung ist eine Lebensleistung

4. Frauenpolitik schließt eine auf Partnerschaftlichkeit orientierte Familienpolitik ein.

Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Gesellschaft geht nicht ohne Gleichberechtigung innerhalb der Familie, die heute jedoch nicht einmal juristisch voll hergestellt ist. Die Übertragbarkeit (nicht Ausdehnung!) aller sozialen Vergünstigungen der Frau zur Realisierung familiärer Verantwortung (40-Stunden-Woche, Teilzeitarbeit, Haushaltstag usw.) auf Männer bzw. Väter gehört deshalb zur Mindestanforderung für eine neue Frauenpolitik.

Mehr Partnerschaftlichkeit in der Realisierung familialer Verantwortung enthebt die Gesellschaft nicht von der Verpflichtung, Lösungen anzubieten, um den Aufwand in den Familien für die einfache und erweiterte Reproduktion des individuellen Lebens drastisch zu verringern und das objektive Interesse des Mannes, sich für die Familie zu engagieren, zu entwickeln. In diesem Rahmen erhebt sich auch die Frage, wie kinderfreundlich unsere Gesellschaft ist und inwieweit Kindererziehung als Lebensleistung anerkannt wird.

5. Eine neue Gleichberechtigung von Mann und Frau wird mit einem neuen Verhältnis von Frauenpolitik und Gesellschaftspolitik erreicht. Viele Probleme in der Arbeits- und Lebenssituation von Frauen konnten deshalb nicht gelöst werden, weil mit sozialpolitischen Maßnahmen etwas erreicht werden sollte, was nur mit einer veränderten Wirtschafts- bzw. Gesamtpolitik möglich gewesen wäre. So haben wir heute den Zustand, dass ungelöste allgemeine Probleme unserer Einkommens- und Subventionspolitik, der desolate Zustand unserer Infrastruktur u. a. auf Kosten der berufstätigen Frauen ausgetragen werden. Krankenschwestern, Ärztinnen, Verkäuferinnen, Frauen im Verkehrs- und Dienstleistungswesen gehören heute zu den am meisten belasteten Berufsgruppen. Umgekehrt wiederum fehlt es an gezielten, ausschließlich für Frauen gedachten Maßnahmen zur Verbesserung ihrer sozialen Lage.

So setzt erst heute die Suche nach Mechanismen ein, um z. B. einen höheren Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erzwingen. Dabei geht es um viel mehr als um Quotenregelungen; generell muss Frauenpolitik integraler Bestandteil jedweder Gesellschaftspolitik sein. Nur so können gesamtgesellschaftliche Strukturen - insbesondere die geschlechtsspezifische Verteilung attraktiver und persönlichkeitsfördernder Arbeit, Unterschiede im beruflichen Einkommen von Mann und Frau, die Vermittlung traditioneller geschlechtsspezifischer Leitbilder in den Medien, Künsten, in der Leitungstätigkeit sowie in der gesellschaftlichen und individuellen Erziehung zur Lösung der Frauenfrage verändert bzw. abgeschafft werden. Dabei geht es nicht darum, dass Mann und Frau ihre eigene Identität aufgeben oder einander kopieren, sondern dass sie ihr spezifisches Wesen In die Gesellschaft gleichwertig einbringen.

Dr. Heidrun Radtke leitet die Forschungsgruppe "Frau" am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR

aus: Neues Deutschland, Mo. 11.12.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 291

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