Uns wurde die Erde nicht geschenkt, nur geliehen

Gedanken vom Potsdamer "Grünen" Minister Matthias Platzeck zur nächsten Zukunft und über den 18. März hinaus

Vier Orkane über Europa in zwei Monaten, vier warme Winter in einem Jahrzehnt - von wegen Treibhauseffekt, alles Zufall. Sorgen brauchen wir uns nicht zu machen, zukünftig wird das alles gemeistert, man sorgt für uns. Selbstverständlich ökologisch und sozial.

Saubere Flüsse, dichte rauschende Wälder, Orchideenwiesen an jeder Autobahn - dafür brauchen wir doch keine Grünen, das plant doch schließlich jede Partei mit ein - neben Wohlstand, Vollbeschäftigung, D-Mark, sozialem Netz, Golf GTI, Marlboro und Videorecorder - alles zusammen spätestens am 1. Juli, man bracht sie nur zu wählen, den Rest machen sie mit Helmut dann schon.

Was sollen die Sprüche vom Wertewandel, von der Kraft-Wärmekopplung, dezentralen Strukturen, ökologischer Landbau, Schiene statt Straße oder gar solch Unsinn wie Gleichstellung der Frau, Unersetzlichkeit von Wasser, Luft und Boden. Natur- und Landschaftsschutz, soziale Verantwortung, Klagerecht für Bürger - und Organisationen, Stadtbegrünung, sanfter Tourismus, behutsame Stadterneuerung, solidarisches Verhalten, Öffnung für noch fremde Kulturen (iqittiqitt) - alles Blödsinn, Deutschland einig Vaterland, und alles läuft man muss halt nur richtig wählen.

Für die letzten Zweifler an der Reibungslosigkeit des künftigen Geschehens habe ich eins von dem aufgeschrieben, was mir bei diesem Thema durch den Kopf geht.

Vor uns stehen immense Aufgaben, die Solidarität, Optimismus und Intelligenz verlangen. Die Dezentralisierung aller Lebensbereiche. Vielfalt in Industrie, Handel und Gewerbe (ohne neue Monopolstellungen), starke Kommunen und Länder sowie Möglichkeiten zur Einbringung der Sachkompetenz der Betroffenen (z. B. Runde Tische, Volksentscheide, Bürgerkomitees) sind zu organisieren. Nur solche Maßnahmen werden auf Iange Sicht bürgernahe Politik strukturell ermöglichen und uns sicher gegen bestimmte Erscheinungen der Marktwirtschaft machen, die derzeit die einzig mögliche Alternative zur Lösung unserer Probleme ist.

Ökologische Aspekte sind in der Grünen Partei der Ausgangspunkt aller Überlegungen, Ziele und Vorhaben - dies unterscheidet sich von allen anderen Parteien. Selbstverständlich werden auch künftig Kompromisse das Wesen der Politik bestimmen, auch wir werden sie machen müssen. Ich bin aber dabei für Augenmaß und radikale Vernunft.

Schnell erreichbarer Wohlstand auf bundesdeutsches Niveau, soziale Sicherheit in gehabter Weise und dazu noch eine intakte Umweit - dies alles sofort und zum Nulltarif zu versprechen ist unrealistisch und gefährlich. Eine 40jährige Fehlentwicklung ist nicht mit einer Zauberformel zu kompensieren.

Jede Stimme für die Grüne Partei ist eine Stimme für ein Leben mit Zukunft und in solidarischer Gemeinschaft, für den ständigen Versuch, Ehrlichkeit in die Politik zu bringen, so mühsam das auch sein mag.

Lassen wir uns bei alles Entscheidungen davon leiten, dass wir unsere Erde nicht von unseren Vorfahren geschenkt bekommen, sondern von unseren Kindern geliehen haben.

aus: Brandenburgische Neuste Nachrichten, Nr. 57, 08.03.1990, 40. Jahrgang, Tagespost für Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Herausgeber: Brandenburgische Neuste Nachrichten


[Am 18. März 1990 fand die Volkskammerwahl statt, und am 1. Juli 1990 trat die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion in Kraft.]