Wolfgang Templin, Philosoph und Publizist, ist einer der Sprecher der "Initiative Frieden und Menschenrechte", die als älteste der neuen Bewegungen in der DDR gilt und dem "Bündnis 90" angehört. JW sprach mit ihm.
Die "Initiative Frieden und Menschenrechte" ist die älteste der Bewegungen und Parteien neuer Art in der DDR. Welches waren die wichtigsten Schritte in ihrer Entwicklung?
Die Initiative ist für die DDR-Geschichte eigentlich die erste oppositionelle Gruppe, die sich aus der Bindung zur Kirche gelöst hat. Es gab ja die Strategie, dass im Rahmen der Kirche manches möglich war, aber wenn es auf die Straße ging, dann hörte der "Spaß" auf. In einigen dieser Gruppen merkten wir 1984/85, dass das unsere Arbeit kaputt zu machen drohte.
Deshalb die Entscheidung 1985: Wir machen mit 20, 25 Leuten eine eigene unabhängige Menschenrechtsgruppe auf. Der Name drückt natürlich einen Zusammenhang aus, denn für uns ist Frieden eng mit der Frage der Menschenrechte verbunden. Aber mit dieser Entscheidung, die eigene Wohnung als Treffpunkt und Arbeitsort zu nehmen, setzten wir uns natürlich den staatlichen Angriffen noch stärker aus, und das hat in den Jahren von 1986 bis 1989 bestimmend in unser Leben eingegriffen.
Wie ging es seit dem November 1989 weiter?
Wir hatten im Herbst '89 zunächst nicht den Anspruch, uns in diese neue Parteidimension hinein zu bewegen, wir sind bis heute eine Menschenrechtsgruppe, die republikweit mehrere 100 Mitglieder hat: Die entscheidende Ebene, für uns ist die außerparlamentarische, des Versuch, als Basisbewegung zu arbeiten, die Leute zu ermutigen, ihre eigenen Rechte wahrzunehmen, sich rechtskundig zu machen und Rechtshilfe zu vermitteln. Wir haben aber bald gemerkt, dass das nicht reicht - weil Parteien sehr schnell dazu neigen, nach Art von Versandhauskatalogen Programme zu machen, in denen vor den Wahlen alles drin steht. Parteien sind aber auf Mehrheiten angewiesen. Deshalb kommt es sehr schnell dazu, dass die Anliegen von Minderheiten unter den Tisch fallen. Da sehe ich eine Chance der Bürgerbewegungen, deshalb die Entscheidung, dass wir uns im Bündnis der Wahl stellen.
Welchen politischen Formen der außerparlamentarischen Arbeit geben Sie eine Chance? Wird der Runde Tisch weiter bestehen können?
Vielleicht nicht der Runde Tisch in Niederschönhausen, aber es gibt inzwischen schon viele thematische Runde Tische - und deren Aufgaben sind nach dem 18. März keineswegs erfüllt. Für mich wird der Prozess der Vorbereitung der Kommunalwahlen noch einmal sehr spannend. Dort wird sich zeigen, welches Gewicht Bürgerbewegungen an der Basis haben.
Welche Richtungen der Gesellschaftsentwicklung strebt die Initiative an? Aus dem "Bündnis 90", das Sie mit "Demokratie Jetzt" und den Neuen Forum eingegangen sind hört man, dass es eine nach ethischen Grundsätzen aufgebaute, demokratische und solidarische Gesellschaft anstrebt.
Das ist die große Gemeinsamkeit der Bürgerbewegungen. Für mich ist es entscheidend, dass die Leute, für die ja Politik angeblich gemach wird, und die von ihren Wirkungen betroffen sind, die Chance haben sich einzubringen. Ein Parlament wie wir es uns vorstellen, muss gegenüber der Regierung und den Apparaten der Verwaltung soviel wie möglich Kontroll- und Einflussmöglichkeiten haben. Damit aber dieses Parlament wiederum von der Basis der Wähler nicht zu weit entfernt ist, wünschen wir uns in der politischen Landschaft möglichst viele Vermittlungen, das heißt Bürgerkomitees, Bürgerinitiativen. Das muss spontan von unten wachsen und es wird die Demokratie nicht immer einfach und superschnell machen, weil bestimmte Prozesse erst gelernt werden müssen. Ich hoffe auf diese Chance, auf den mündigen Bürger, für den ja bisher kein Platz war. Es wird ein schwieriger Prozess, weil ja viele immer noch die Angst haben, so etwas gar nicht zu können und alles wegdelegieren wollen, also immer noch die Hoffnung haben: Jetzt kommt eine gute Regierung, und sie wird's schon machen. Wer darauf vertraut, wir ziemlich enttäuscht werden. Die einzige Chance für die Leute ist, sich mit ihren Fähigkeiten und ihrem kritischen Potential unbeirrt selbst in die Politik einzubringen.
Das muss natürlich dann auch rechtlich gesichert werden.
Das Wichtigste dabei ist die Verfassung. Wir wollen also soviel wie möglich demokratische Rechte und soviel wie möglich Elemente der unmittelbaren Demokratie in der Verfassung festschreiben. Da ist für uns das westdeutsche Grundgesetz nicht das Nonplusultra. Wir wollen Bürgerpartizipation in allen Politikfeldern, in der Wirtschaft, der Bildung; wir treten in all diesen Bereichen für weitgehende Dezentralisierung und Mitbestimmung ein und für die rechtlichen Formen, in denen das abgesichert wird, gegen die Versuche von verschiedenen Seiten wieder Politik über die Leute hinweg zu machen.
(Das Gespräch führte
Ulrike Henning)
aus: Junge Welt, Nr. 56 B, 07.03.1990, 44. Jahrgang, Linke Sozialistische Jugendzeitung