TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER
Bereits nach wenigen Monaten sind die Ereignisse der "Herbstrevolution" in der DDR Gegenstand zahlreicher Mythen und Verklärungen. Zu ihnen gehört das Bild von den sympathischen Revolutionären, die von der Entwicklung überrannt wurden, in der Ecke stehen und den eigenen Träumen nachtrauern. Stimmt diese Zeichnung?
Für viele waren die Demonstrationen des letzten Herbstes tatsächlich eine Stunde Null, die Macht schien auf der Straße zu liegen, und vierzig Jahre Diktatur wurden scheinbar beiseitegeschoben. Sie lassen sich aber nicht so einfach wegschieben. Aus Untertanen werden durch den Ruf "wir sind das Volk" nicht einfach mündige Staatsbürger. Jahrzehnte der Ohnmacht und Isolierung haben tiefe Spuren in das Verhalten der Menschen gegraben. Wer im Herbst dazustieß, vorher vielleicht schon mit der Opposition sympathisierte, aber erst jetzt den Schritt in den offenen Widerstand wagte, musste in der Gefahr sein, die Mühsal und Länge des Weges zur Demokratie zu unterschätzen Auch ohne den plötzlichen Fall der Mauer und die D-Mark-Intervenlion war die DDR-Gesellschaft im Inneren viel stärker zerstört und gelähmt, als es viele Beteiligte wahrhaben wollten. Auf die Euphorie des Aufbruchs musste die Depression folgen. Es ist aber kein Zufall, dass gerade ein Großteil der "Alten Opposition" aus der Friedens- und Menschenrechtsbewegung solcher Depression am ehesten widerstand. Wer über Jahre hinweg nicht nur den drohenden Zeigefinger, sondern die volle Härte der Repression verspürte, konnte sich die wenigsten Illusionen über den tatsächlichen Zustand des Systems und die Verdrängungs- und Anpassungsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung machen.
Der Sprung in die Normalität der Parteienpolitik, um sich dort dem Kampf um die Macht zu stellen, und die bequeme Vorstellung von den Bürgerbewegungen als sozialen Reparaturbrigaden auf kommunaler Ebene, die sich aber gefälligst aus der großen Politik und den Parlamenten heraushalten sollen, gehören zusammen. Jeder Blick auf die Arbeit der Volkskammer macht deutlich, wie viel Verdrängung in einer solchen Mentalität des politischen Schnellstarts steckt. Wenn dort etwas Parlamentsgeschichte macht, dann sind es die Reden und Auftritte von Wolfgang Ullmann, Jens Reich und den anderen Vertretern der Bürgerbewegung, ihr Kampf um einen aufrechten Gang in die Einheit und nicht das Jammerspiel einer zusammen gefesselten Regierungskoalition.
Der Kampf um eine demokratische Gestaltung des Vereinigungsprozesses und die notwendige Zeit dafür, war von Seiten der Bürgerbewegungen kein taktisches Manöver, um sich möglichst lange an die Zweistaatlichkeit klammern zu können oder möglichst viel von der alten DDR einfach mitzunehmen. Diese Haltung war schon im Winter überwunden, aber es blieb das Bewusstsein vom Ausmaß der Aufgabe, die mit dieser Vereinigung steht. Bürgerinitiativen und Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit, Runde Tische als "Schulen der Demokratie" und selbst die endlich gewonnene Öffentlichkeit konnten ja nicht mehr sein als erste Schritte und Voraussetzungen im Prozess der Demokratisierung und der Aufarbeitung der Vergangenheit.
Wahltermine und die Art und Weise des Wahlkampfes sind den Bürgerbewegungen bis heute aufgezwungen. Gegen die Apparate und Sponsoren der alten und neuen Parteien steht der Anspruch auf demokratische Teilhabe und das Vertrauen auf die Entscheidungsfähigkeit der Bürger. Sowenig die Demonstranten des Herbstes bereit waren, ihrer Rolle als Souverän nachzukommen, sowenig haben sie sich samt und sonders vom politischen Leben verabschiedet. Mit der Wahl vom 18. März war nicht so sehr eine politische Richtungsentscheidung verbunden, als die Hoffnung auf die Kraft des Stärkeren, schnell den Weg aus der allgemeinen Misere zu bahnen. Die Bürgerbewegungen waren ein Sympathiegewinner der Wahl. Was konnte man ihnen aber an Beständigkeit und Sacharbeit zutrauen? Im Zwiespalt zwischen altem Untertanendenken auf die neuen politischen Kräfte projiziert und der unsicheren Hoffnung auf eine neue, selbstzugestaltende Demokratie, siegte zumeist das Bedürfnis nach Sicherheit.
Mittlerweile sind die Folgen einer sozialökonomischen Katastrophenpolitik und die Demagogie der Wahlversprechungen offenkundig. Wer kann sich aber freuen, dass er mit seinen Warnungen recht behielt? Soziale Verunsicherungen und Existenzangst lähmen eher, anstatt zu mobilisieren oder schlagen als Aggression auf die Schwächsten und die Außenseiter der Gesellschaft durch. Mit der definitiven Entscheidung für den 2. Dezember als gesamtdeutschen Wahltermin und dem konzentrierten Versuch der Großparteien, die Bürgerbewegungen als eigenständige politische Kraft aus dem gesamtdeutschen Parlament herauszuhalten, entstand eine neue Herausforderung. Vielleicht war es wirklich besser, sich auf die Arbeit in den Kommunen und künftigen Ländern zu beschränken? Oder sollte man es ins Belieben der einzelnen stellen, die Angebote auf Gastplätze bei anderen Parteien wahrzunehmen, die sich um die Revolutionäre des Herbstes sorgten?
Mit diesen Diskussionen waren die Sommermonate gefüllt, und die Entscheidung für ein Zusammengehen mit den Grünen ist alles andere als Überlebensstrategie und äußeres Zweckbündnis. Es wird auch nicht die letzte Szene eines kurzen Intermezzos sein, an dessen Ende eine Grüne Partei steht, die sich der Parteienlandschaft einpasst. Wenn überhaupt, dann ist es der Prolog für die entscheidende politische Herausforderung der neunziger Jahre. Ob es die gewaltigen ökonomischen und sozialen Probleme sind, die mit der deutschen Vereinigung anstehen oder die ökologischen und politischen Herausforderungen im europäischen und globalen Maßstab - die Gestaltungskraft traditioneller Parteien und die Instrumente bisheriger Politik sind davon weit überfordert. Quer zu den alten Konzepten und Denkweisen braucht es die Mitgestaltung der Bürger in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und über die bisherigen Grenzen hinweg.
Unser Autor ist Mitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte (Bündnis 90/Grüne). Er kandidiert zu den gesamtdeutschen Wahlen auf der Liste der "Grünen" in Nordrhein-Westfalen
Sonntag, Nr. 37, So. 16.09.1990