Der Verfassungsstreit und die Hintergründe

Von WOLFGANG TEMPLIN, Initiative "Frieden und Menschenrechte"

Es ist schon absurd. Jahrzehntelang war die Verfassungsfrage in der DDR als politisches Thema tabu und höchstens Gegenstand ritualisierter Bekenntnisse auf die sozialistische Gesellschaft und Rechtsordnung: plötzlich liegt ihre politische Brisanz fast offen zutage.

Mancher mochte sich ja immer noch fragen, warum in einer Zeit größter Unsicherheit und drückendster wirtschaftlicher und sozialer Probleme ausgerechnet die Erarbeitung und Diskussion einer neuen Verfassung so lebenswichtig sei. Ein erstes genaues Hinhören auf die zahlreichen Diskussionen darum hätte deutlich gemacht, wie viel von der Sicherung sozialer und politischer Rechte und den Formen der neuen Gesellschaft in den scheinbar abstrakten juristischen Debatten steckt.

Ob die Bürger weiter dauernden Einfluss auf ihre gewählten Vertreter und Parlamente behalten oder mit der Wahlentscheidung wegdelegieren, ob das Recht auf Arbeit juristisch einklagbar wird oder als unverbindliche Floskel in Sonntagsreden bleibt, ob der Schutz der natürlichen Umwelt in den Rang eines Gesellschaftszieles rückt oder sich wieder die Logik der Vernutzung durchsetzt, wird durch die Verfassung als Konstituierungsgesetz einer demokratischen mindestens mitentschieden.

Im Verfassungsentwurf des Runden Tisches, der als Dokument eines politischen Kompromisses durchaus die Handschrift aller beteiligten Parteien und Bewegungen trägt und die demokratische Substanz des westdeutschen Grundgesetzes mit einbezieht, wurden akzeptable Regelungen für viele aktuelle ökonomische, soziale und ökologische Herausforderungen einer modernen Gesellschaft gefunden. Gleichzeitig gelang es, die demokratischen Impulse des Herbstes und der Runden Tische mit aufzunehmen und die Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen mit anderen Elementen direkter Demokratie zu verbinden.

Genau dieser Geist und die Traditionen der aus der Friedens- und Menschenrechtsbewegung erwachsenen Opposition machen die Verfassung des Runden Tisches so unakzeptabel für andere politische Kräfte. Sie musste vom Tisch; mit allen Mitteln der Demagogie und der vorgeschobenen Argumente. Da wurde die Zeitfrage angeführt und die komplizierte Situation, die keinen Raum für verfassungspolitische Kraftakte lasse. In der gleichen Zeit aber, in der sich die Regierungskoalition der offenen gesellschaftlichen Diskussion dieser Verfassung verweigerte, liefen die Geheimverhandlungen zum Staatsvertrag bereits auf Hochtouren.

Ihr Ergebnis liegt jetzt auf dem Tisch und macht deutlich, was mit dieser Hetzjagd auf die schnelle D-Mark und die Beschäftigung der Öffentlichkeit mit Umtauschquoten und Umtauschhöhen bezweckt war. Der komplexe und komplizierte Prozess des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands soll als eine Art technisches Anschlussmanöver mit größtmöglicher Bewusstlosigkeit über die Spätfolgen und Kosten dieser Art von Vereinigung gemanagt werden. Die Auseinandersetzung über die Identität der unterschiedlichen Hälften und über die Chancen einer neuen gemeinsamen Identität würde hier nur aufhalten und stören. Was an Problemen noch nicht gemanagt werden konnte wie die kleinen "Nebensächlichkeiten“ der Eigentumsordnung, der Rechtsangleichung und der demokratischen Mitgestaltung und Kontrolle dieses Prozesses, wird in die nächsten internen Beratungen verlegt.

Nun wird dem naivsten Betrachter klar, warum Verfassungsdiskussion und ein verfassunggebender Prozess mit dieser Art Verdrängung und Versteckspiel unvereinbar sind. Um so nachdrücklicher muss die offene Auseinandersetzung geführt werden - für eine DDR-Verfassung, für einen gesamtdeutschen verfassunggebenden Prozess. Verfassungsfragen sind Machtfragen.

Neues Deutschland, Mo. 21.05.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 117

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