Es reicht nicht, alles unter dicken Betonteppich zu kehren und den Rest durch den Schornstein zu jagen

Volkskammer-Sonderausschuss will Syndrom Stasi in der Gesellschaft überwinden

Eine große Verantwortung vor der Geschichte unseres Volkes tragen die elf Abgeordneten, die in einem Sonderausschuss der Volkskammer die Auflösung von Stasi und Nasi kontrollieren sollen. Damit hat sich Anfang Juni das Parlament ein Gremium geschaffen als die "letzte Adresse" in allen Fragen der Staatssicherheitsproblematik.

Trotz näherliegender Alltagsprobleme ist die Öffentlichkeit nach wie vor stark sensibilisiert und emotionell interessiert an dieser Thematik, weil sie eigentlich jeden direkt berührt hat. Welche Linie der Sonderausschuss in seinem reichlich vierwöchigen Wirken dabei eingeschlagen hat, was er erreichte und was er bewirken will, dazu befragte NEUE ZEIT de Vorsitzenden des Ausschusses, Joachim Gauck, delegiert von der Fraktion Bündnis 90/Grüne, der gemeinsam mit seinem Stellvertreter Geisthardt (CDU/DA-Fraktion) Antwort gab.

Sensible Komplexe für "letzte Instanz"

Auftrag und Kompetenz des Sonderausschusses - worin liegt die Notwendigkeit?

Mit ihrem Beschluss vom 7. Juni 1990 hat sich die Volkskammer ein Organ geschaffen, das die Tätigkeit der Regierungskommission auf diesem Gebiet kontrollieren und überprüfen soll. Im gleichen Atemzug trat eine Kompetenzerweiterung ein, indem der Ausschuss zur "letzten Instanz" in Staatssicherheitsfragen gemacht wurde. Drei Themen wurden ihm durch die Drucksache 27 übertragen, die im Bewusstsein der Öffentlichkeit große Resonanz hatten: der Komplex Waldheim, die Verbindung Stasi - SED - Rote-Armee-Fraktion (RAF) und die Konzentrationslager im Stalinismus der Nachkriegsjahre. Daran arbeiten wir.

Ende letzten Monats kam der Problemkreis OibE dazu, die Offiziere im besonderen Einsatz der Staatssicherheit. Um die Zusammenhänge zu erkennen und entsprechendes Material zu sichern, hatten Mitglieder des Sonderausschusses Arbeitsbesuche in allen ehemaligen Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit und in der Zentrale Normannenstraße absolviert. Im Ergebnis dessen wurde in Erfahrung gebracht, um welche Personen es sich dabei handelte. Das Material ist zusammengetragen, der Ausschuss konnte jedoch daran noch nicht arbeiten.

Möglicherweise wird die Volkskammer unserem Gremium auch noch andere Themen zuweisen, die in dem großen Komplex stehen: Was war die Stasi, was hat sie aus unserem Staat gemacht, hat sie von sich aus gehandelt oder im Auftrag?

Wann ist mit der Veröffentlichung erster konkreter Ergebnisse Ihrer Tätigkeit zu rechnen?

Unsere Rechenschaftspflicht vor der Volkskammer wird sich im Terminlichen nach der Aktualität des Materials richten. Wir sind beim Sichten, haben erste Übersichten. Konkrete Ergebnisaussagen liegen noch nicht vor; Teile davon publik zu machen wäre unseriös. Mit Sicherheit betreiben wir keinen "Enthüllungsjournalismus". Wir arbeiten mit großer Entschlossenheit, aber auch mit Fingerspitzengefühl. Wir werden also nicht nur die Namen zusammenzählen, sondern Methoden zu entwickeln versuchen, wie wir Schaden von der Gesellschaft abwenden können. Dazu bedarf es bei uns selbst in nächster Zeit noch einiger Klärungsprozesse. Von Anbeginn aber waren wir uns im Ausschuss einig, dass wir bereit sind, die Öffentlichkeit zu informieren. Wir müssen aber mit Verständnis bei dem Punkt rechnen, an dem die Sicherheit von Menschen und Familien vor dem Informationsbedürfnis rangiert. Was nicht als Zudecken, als Abkehr von restloser Aufklärung interpretiert werden darf.

Können Sie in Ihrer Tätigkeit auf bisherige Arbeitsergebnisse der jetzt in Auflösung befindlichen Bürgerkomitees zurückgreifen?

Natürlich benutzen wir die Kompetenz und die Einsatzbereitschaft zahlreicher Mitglieder von Bürgerkomitees. Eine Reihe von ihnen haben wir zur Mitarbeit verpflichtet. Anders sind die uns gestellten Aufgaben gar nicht zu lösen. Für viele Ehemalige aus den Bürgerkomitees ist das eine Fortsetzung ihrer qualifizierten Arbeit auf einer anderen Ebene. Ein Beispiel dafür ist David Güles, der in unserem Sonderausschuss als Sekretär fungiert.

Weitere Überprüfung aber keine Hexenjagd

Existieren Formen der Zusammenarbeit mit dem Ausschuss der Volkskammer, dem die Überprüfung der Parlamentarier hinsichtlich möglicher Zusammenarbeit mit der Stasi übertragen wurde?

Nein, dieser Ausschuss arbeitet selbständig und unabhängig. Wir kennen bisherige Ergebnisse der Untersuchungen nicht. Wir wissen aber, dass auf einen Volkskammerbeschluss gewartet wird, der die Überprüfungsmodalitäten von Abgeordneten in Kreis- und Gemeindeparlamenten regelt. Es ist ein schwieriges juristisches Unterfangen, einige tausend Abgeordnete zu überprüfen, ohne dass daraus eine allgemeine Hexenjagd werden darf.

Sie sprechen sich gegen "Enthüllungsjournalismus'" aus - worin liegt der Anlass Ihrer kritischen Einstellung?

Natürlich ist es wichtig, in den Medien die Stasi-Problematik zu bearbeiten, ja wir möchten ausdrücklich die Journalisten ermuntern, auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten. Problematisch ist bei vielen Veröffentlichungen freilich, dass Schwerpunkte gesetzt werden, die keine sind. Das allerwichtigste Thema ist: Wie funktionierte die Verknüpfung des SED-Establishments mit diesem Machtapparat Stasi und wie ist es dazu gekommen, dass unsere Gesellschaft eine so demokratieferne Struktur entwickelt hat. Das sind die Fragen, um die es gehen muss, und nicht so sehr die, wer mehr Geld verdient hat dabei oder ähnliche.

Wir jedenfalls werden sehr zurückhaltend sein mit dem, was wir an die Öffentlichkeit tragen. Wir werden aber sehr genau informieren, wie deutlich erkennbar das Gefahrenpotential ist. Gewissenhafte Arbeit steht im Vordergrund. Dennoch werden wir hier nicht in aller Breite 2 000 Namen veröffentlichen, wir werden es auch nicht mit 20 Namen tun, möglicherweise auch nicht mit zwei. Wenn wir einen Namen veröffentlichen würden, dann müsste es sehr gute Gründe geben. Wir haben diesen gesellschaftlichen Auftrag angenommen, das Problem zu erkennen und abzuarbeiten. Das heißt auch, dass wir uns dafür interessieren müssen, wo diese ehemaligen Stasi-Mitarbeiter geblieben sind, was sie jetzt machen, wo sie jetzt arbeiten.

In der Bundesrepublik wird beabsichtigt, in ihrem Besitz befindliche Stasi-Akten zu vernichten. Kann das der Weg der Bewältigung dieses Problems sein?

Unser Arbeitsschwerpunkt liegt in der Klärung des Aspekts, was in unserem Land durch die Stasi verursacht wurde. Sollte man zu ähnlichen Schlüssen wie in der BRD kommen, die Akten zu vernichten, dann wäre sehr viel Widerstand unsererseits zu erwarten.

Wir haben in den Archiven der Stasi sehr gefährliches Material, weil es unzählige Bürger unseres Landes betrifft. Es muss unter allen Umständen optimal gesichert werden. Wir wollen beweisfähig halten, was später vielleicht sehr leicht entschuldigt werden kann: wie eine Machtgruppierung sich einer anderen bedienen konnte, um ein ganzes Staatswesen zu unterjochen. Damit pflegen wir keine Mythen, sondern wollen den heutigen und den Menschen in der Zukunft gesichertes Material zur Verfügung stellen, das es ihnen ermöglicht, eventuellen Gefahren antidemokratischer Entwicklung erfolgreich begegnen zu können.

Schließlich wollen wir auch Menschen, die seelisch und materiell gelitten haben, die Möglichkeit geben, Rechtsansprüche geltend zu machen. Das alles kann auf gar keinen Fall innerhalb eines halben Jahres abgewickelt sein. Es muss gewährleistet werden, dass wir Möglichkeiten der Bewertung, der Aufarbeitung und des Ausgleichs von erlittenem Unrecht haben. Der Neigung von verschiedensten Stellen, hier doch alles sehr schnell unter einen dicken Betonteppich zu kehren und den Rest durch den Schornstein zu jagen, kann unser Sonderausschuss keine Gegenliebe entgegenbringen.

Die Sinne schärfen für tiefe Deformation

Wir brauchen dieses Material, damit diese Gesellschaft gesunden kann. Das bedeutet eben nicht, die Augen vor etwas zu verschließen, sondern geeignete Mittel und Methoden zur Heilung dieses kranken Gesellschaftskörpers zu entwickeln. Jahrzehntelang wurde er krank gemacht, er kam schon nicht mehr als Gesunder aus der Deformation des Faschismus heraus. Von dieser Krankheit sind nicht nur Individuen, sondern ganze Gruppen geprägt, sie hat das Gesellschafts- und Bürgerverhalten relevant erfasst. Hier müssen Heilungsprozesse in Gang gesetzt werden, die sich nur in Jahren, vielleicht erst nach Jahrzehnten als Erfolg herausstellen können. Wenn man also zu Beginn dieser Tätigkeit wieder notwendige Genauigkeit und Ernsthaftigkeit vermissen lässt, dann wird sich alles Heilwerden um diese Zeiträume verzögern.

Könnte das Interesse an der gründlichen Aufarbeitung des Stasi-Syndroms durch den bevorstehenden Einigungsprozess gemindert werden?

Der größere Teil der künftigen gesamtdeutschen Gesellschaft hat die Tiefe dieser Problematik überhaupt noch nicht erfasst. Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge können zwar bei den Bürgern ein gelindes Erschrecken auslösen, für sie die Tiefe der Deformation hier aber nicht verdeutlichen. Wir gehen davon aus, dass es viele geduldige Gespräche auf den verschiedensten Ebenen geben muss, um in der Bundesrepublik die Sensibilität dafür zu erzeugen, dass hier ein Problem der vormaligen DDR-Bürger auf Bearbeitung durch DDR-Bürger wartet. Wir glauben, ein Problembewusstsein auch bei denen wecken zu können, die an einer alsbaldigen Bereinigung interessiert sind, und daraus eine ein vernehmliche Behandlungsmöglichkeit zu entwickeln. Auf dieser Linie können und müssen wir auch nach der Einheit Deutschlands weiterarbeiten.

Das Gespräch führte
Friedrich Eismann

Neue Zeit, Fr. 06.07.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 155

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