Das Bundesarchiv weiß von nichts?
Mit dem Bundesbeauftragten für das Stasi-Material Joachim Gauck sprach Renate Oschlies
Anfangs nicht einzuordnende Aktivitäten in der Berliner Ex-Stasi-Zentrale sorgten am vergangenen Wochenende für öffentliche Verwirrung. Das BKA bestätigte Untersuchungen, um sie tags darauf zu dementieren. Was ist geschehen?
In dem Gebäude, das unter Verantwortung der neuen Bundesbehörde zur Auflösung personengebundenen Stasi-Materials steht, ist nach dem 3. Oktober ein Wechsel des Bewachungspersonals vorgenommen worden. Bisher bewachten vom ZKA geführte Ostberliner Polizisten des Personen- und Objektschutzes die Gebäude, jetzt tun dies weiterhin ehemalige Ostberliner Polizisten, die der Außenstelle des BKA unterstehen. Aktenbestände unseres geschützten Bereichs sind weder angefasst noch besichtigt oder verbracht worden. Zum anderen hat es Aktivitäten im Rahmen von Untersuchungen der Generalbundesanwaltschaft gegen die ehemalige Stasi-Abteilung Aufklärung im Haus 49 gegeben. Über diese verschiedenen Vorgänge hatte der Sprecher des BKA, als ihn Nachfragen erreichten, offensichtlich nicht die nötige Klarheit.
Und dann haben sich noch drei vom ehemaligen Staatsarchiv beauftragte Personen dort, zum Teil auch nachts, aufgehalten, deren Befugnis mit dem 3. Oktober beendet war, die sich dennoch kompetent glaubten, mit ihrer Anwesenheit "ein Stück Herstellung von Sicherheit" zu leisten. Darüber sind wir gerade mit Herrn Stief und dem Archivverantwortlichen im Gespräch, die offenbar eine Information an ihre Mitarbeiter darüber versäumten. Ein Eindringen in geschützte Bereiche hat es jedoch zu keinem Zeitpunkt gegeben, alle Siegel sind unversehrt.
Es lag doch aber nahe, dass jedwede unangekündigte Aktivität in den zur Zeit verlassenen Gebäuden des ehemaligen MfS das Misstrauen der Bürger wie das der Mahnwache . hervorrufen musste.
Weder die Behörde noch ich sind vorher von dem Wach- und Kommandowechsel informiert worden.
Auch wenn ich dahinter keine Absicht vermuten will, muss gesagt werden, dass viel Verwirrung hätte vermieden werden können durch eine vorherige Absprache. Bisher ist auf unsere dringende Nachfrage hin noch nicht geklärt, wer das Schild "Bundesarchiv" am Gebäude des Stasi-Archivs anbringen ließ, das wir am Wochenende noch entfernten. Der Chef des Bundesarchivs wusste jedenfalls davon nichts.
Am Montag dann sorgten im Ostteil Berlins als Postwurfsendungen verteilte Flugblätter für erneute Aufregung. Gefälschte Formulare kündigten die Ausgabe der Stasi-Akten in der berüchtigten Normannenstraße an. Gibt es Anhaltspunkte über die Herkunft?
"Wem zunutze?" fragte Ihre Zeitung am Dienstag, in der ich mit dem wenig ehrenvollen Epitheton "ehrenwerter Joachim Gauck" bezeichnet wurde, was mich an eine Sprache vergangener Machtinstanzen schlimm erinnert. Wir sind ernsthaft bemüht, alle die Stasi-Verquickungen, die sämtliche Bereiche vernetzten, offenzulegen und öffentlich zu machen, den Bürgern Auskunft zu ermöglichen hinsichtlich der über sie gesammelten Informationen.
In den letzten Tagen ging die Nachricht durch die Medien, dass 951 der geplanten 1 000 Mitarbeiter Ihrer Behörde aus Angestellten des ehemaligen Innenministeriums gestellt würden, die nicht eben Vertrauen ernteten mit ihrer Arbeit im Staatlichen Komitee zur Stasi-Auflösung unter Minister Diestel. Bezirksarchive erhalten per Post Anweisungen von Prof. Schüßler, dem ehemaligen Chef des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, der jetzt Angestellter des Bundesinnenministeriums ist.
Professor Schüßler war im bisherigen DDR-Innenministerium, das jetzt Außenstelle des BMI ist, Leiter der Rechtsabteilung. Dort hat er möglicherweise die nach dem 3. Oktober erforderliche Anweisung, nur Personen den Zutritt zu gewähren, die eine Beauftragung des Sonderbeauftragten haben, verbreitet. Ausdrücklich muss ich in Abrede stellen, dass zu befürchten ist, dass Personen des ehemaligen Innenministeriums sich hinsichtlich unserer Dienststelle Rechte anmaßen können, die ihnen nicht zustehen. Einstellungen der neuen Behörde werden ausschließlich mit meinem Einvernehmen vorgenommen. Bisher haben wir noch nicht über einen einzigen möglichen Mitarbeiter aus dem ehemaligen Innenministerium gesprochen, hingegen bereits eine Reihe jener Leute eingestellt, die aus der Bürgerbewegung kommen und unser Vertrauen in der Arbeit beim Sonderausschuss erworben haben.
Der Mythos Stasi wächst derzeit, ehemalige Mitarbeiter geben sich als Opfer zu erkennen; die Grenzen Täter - Opfer scheinen verwischt.
Daran müssen wir uns gerade jetzt gegenseitig erinnern, dass die Mehrzahl der Bürger dieses Landes dem MfS niemals eine Unterschrift für ihre Mitarbeit gab, dass die Mehrzahl der Menschen auf den Vorteil, Chefredakteur, Professor, Reisekader zu werden, verzichtete. Menschen, die sich der Stasi verweigerten, konsequent. Des weiteren gibt es Menschen, die erpresst worden sind für eine Stasi-Mitarbeit, es gibt jene, die einfach leichtfertig und solche, die geldgierig und machtbesessen waren.
Unsere Presseabteilung wird demnächst eine Beispielakte vorbereiten, die darstellt, wie jemand Mitarbeiter der Stasi wurde, welche Vorgänge da abliefen, wie eine Verpflichtungserklärung aussah, was aus dieser Verpflichtung folgte, wie aus einer Akte zu erkennen ist, ob einer gearbeitet hat oder nur Belangloses lieferte. Es hat sich auch gezeigt, dass man sich verweigern und aus dieser Mitarbeit aussteigen konnte - einfach, indem man Öffentlichkeit herstellte, mit dem Ehepartner, mit Freunden und Bekannten darüber sprach und dies dem Führungsoffizier mitteilte.
Woraus geht hervor, dass jemand inoffizieller Mitarbeiter, IM, war?
In der Regel, und das betrifft fast alle Fälle, hat eine Verpflichtung stattgefunden, die durch Unterschrift bestätigt wurde, auch durch Handschlag. Die aus dieser Verpflichtung folgende Tätigkeit hatte fließende Grenzen, die von persönlichen Denunziationen bis zu Sachinformationen reichten. Allen gemein jedoch war die Bereitschaft, sich immer zur Verfügung zu halten für solche Gespräche mit den Führungsmitarbeitern des MfS, eine Haltung, die ja ein Stück Unterstützung der Tätigkeit dieses Stasi-Apparates war, die dessen Lebensfähigkeit garantierte. In wirklich ganz seltenen Ausnahmefällen wurde Personen ein Deckname zugeordnet und sie wurden als IM geführt, ohne dass eine Verpflichtung unterschrieben wurde. Viele dieser IM trügt heute das eigene Gedächtnis. Wir dienen uns jedoch nicht, wenn wir unserer Verstrickung von damals davonlaufen. Wenn wir es damals nicht geschafft haben, uns zu befreien, dann sollten wir das doch heute tun, indem wir uns erinnern, was wir damals hätten anders machen können, und dieses Wissen mit nahestehenden Menschen teilen, auch mit dem Vorgesetzten, wenn das möglich ist, So öffnet sich der Weg zum Neubeginn.
Neue Zeit, Do. 11.10.1990