OFFENER BRIEF an alle Bürger und alle Parteien und ihre parlamentarischen Vertreter in Ost und West
Seit Dienstag, dem 4. 9. 1990, halten wir die Büroräume des Zentralarchivs des ehemaligen MfS/AfNS in Berlin besetzt. Seit Jahren sind wir in der Menschenrechts-, Umwelt- und Friedensbewegung tätig gewesen. Aus diesem Grund wurden wir ständig durch Mitarbeiter des MfS überwacht. Obwohl niemand von uns seine Akte bisher gesehen hat, sind wir überzeugt, dass über jeden von uns eine Akte angefertigt wurde. Es gibt 6 Millionen Aktenopfer in ganz Deutschland. Der Inhalt der Akten ist unter anderem dazu geeignet, Menschen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens - Politik, Wissenschaft, Wirtschaft - zu erpressen, falls dieses Material in die falschen Hände gerät. Dazu gehören unserer Meinung nach sämtliche Geheimdienste der Welt.
Am 24. 8. 1990 hat die Volkskammer das Gesetz über den Umgang mit Stasi-Akten beschlossen. Trotz aller Unvollkommenheit waren wir grundsätzlich mit diesem Gesetz einverstanden. Gegen den erklärten Willen der Volkskammer wurde dieses Gesetz nicht Bestandteil des Einigungsvertrages. Die Frage der Behandlung der Stasi-Akten darf aber nicht zu einem Anhängsel des Einigungsvertrages verkommen, das irgendwo in einem 1000-Seiten-Papier vergraben wird. Wir befürchten, dass die politisch Verantwortlichen diese Fragen aus ihrem Bewusstsein verdrängt haben.
Wir erwarten von den Parteien, dass sie Druck auf die Verhandlungsführer des Einigungsvertrages ausüben und damit die Interessen der Aktenopfer vertreten.
Die öffentliche Bewertung der von der Stasi angelegten Akten ist zu undifferenziert. Tatsächlich handelt es sich um drei Kategorien von Akten, mit denen auch unterschiedlich verfahren werden muss.
1. Die Entscheidung über den Umgang, das heißt Aushändigung oder Vernichtung, mit den Personendossiers und personenbezogenen Vorgangsakten muss von den Betroffenen gefällt werden. Das Argument, die Aushändigung dieser Akten würde zu einem Bürgerkrieg führen, widerspricht den bisherigen Erfahrungen. Niemand von den bisher enttarnten Stasi-Mitarbeitern ist ernsthaft zu Schaden gekommen.
2. Quellenakten dürfen ausschließlich nur zur juristischen Aufarbeitung den Strafverfolgungsbehörden zur Einsicht gegeben werden. Ansonsten ist für ihre sichere Verwahrung höchste Sorge zu tragen.
3. Die operativen Vorgangsakten müssen zur historischen Aufarbeitung unter Berücksichtigung des Datenschutzes zugänglich sein.
4. Sogenannte Findhilfsmittel (Karteien und ähnliches) müssen sicher und geschützt aufbewahrt werden.
Aus der oben dargestellten Problematik ergeben sich für uns folgende Forderungen:
• Fristlose Entlassung aller ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus dem Mdl und dem Öffentlichen Dienst.
• Ehemalige Stasi-Mitarbeiter dürfen keinerlei Zugang zu den Stasi-Akten haben.
• Offenlegung der Befehlsstrukturen zwischen SED und Stasi.
• Rechtsstaatlicher Umgang mit Unrechtsdaten und Tätern.
• öffentliche Gerichtsverfahren gegen das ehemalige MfS und alle politisch Verantwortlichen wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte. Internierungsplanung, Bespitzelung, Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, Nötigung und Einschüchterung.
• Rehabilitierung aller Stasi-Opfer und Wiedergutmachung.
• Die vollständige Auflösung des MfS war eine der entscheidenden Forderungen des vergangenen Herbstes. Sie Ist noch Immer nicht erfüllt. Die letzte Möglichkeit zur politischen Lösung dieser Forderung ist jetzt!
• Unsere Forderungen sollen Grundlage für weitere Gespräche mit den Fraktionsvorsitzenden in Ost und West sein. Mit der unbefristeten Besetzung der Büroräume des Stasi-Zentralarchivs wollen wir nachdrücklich alle politisch Verantwortlichen in ganz Deutschland und vor allem alle Betroffenen zum Nachdenken und Handeln auffordern.
Protest gegen Strafanzeige
Der Stadtrat für Inneres, Thomas Krüger und der Leiter der Sonderabteilung bei der Magistratsverwaltung für Inneres, Werner Fischer, erklären zu der Besetzung des MfS-Archivs: Die Weisung des Innenministers Diestel, den Leiter des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS, Günter Eichhorn, Strafanzeige gegen die Besetzer stellen zu lassen, wird mit Empörung zur Kenntnis genommen. Seitens des Innenministers wird damit der Versuch unternommen, das politische Anliegen der Besetzer zu kriminalisieren. Statt über weitreichende politische Lösungen des besonders die Bürger der DDR betreffenden Problems nachzudenken, behält sich der Innenminister alle polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen vor. Wir fordern daher die unverzügliche Rücknahme der Anzeige. Die Haltung Diestels bringt letztlich auch die Polizeiangehörigen in einen falschen Handlungsdruck - zu einem Zeitpunkt, an dem von allen Selten friedliche und der Sache dienende Lösungen angestrebt werden.
Erst-Zeichner an der Mahnwache:
Gewerkschafter, Arbeiterinnen und Arbeiter! Die Stasi-Bonzen sitzen heute immer noch in der Wirtschaft, in den Betriebsleitungen. Sie fahren die Betriebe in Konkurs und Überschuldung. Das tun sie, damit sie selbst oder westliche Auftraggeber das von uns erarbeitete Eigentum sich aneignen können. Sie betrügen uns damit ein zweites Mal, indem sie dieses Eigentum rauben und die Massenarbeitslosigkeit verschärfen, um ihre Herrschaft auf neue Welse zu bewahren. Bereitet Euch auf politische Streiks und Warnstreiks vor, damit unsere Forderungen durchsetzbar werden! Das wird der Wirtschaft nicht schaden, sondern schafft erst die Voraussetzungen für ein effektives Wirtschaften, indem nicht wir, sondern die alten Bosse auf die Straße fliegen! Es läuft auf das Gleiche heraus, ob die Stasi-Akten vom BND oder den auf unserem Territorium noch immer tätigen Stasis unter Verschluss gehalten bzw. vernichtet werden! Also Schluss mit dem Zugriff jeglicher Geheimdienste auf unsere Person!
Katrin Bastian, Lila Offensive,
Uwe Bastian, Mitarbeiter UB/SAG,
Jürgen Fuchs, Schriftsteller,
Tom Sello, Mitarbeiter UB
PODIUM – Die Seite der und für die BürgerInnenbewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, Mi. 12.09.1990