DDR 1989/90 Brandenburger Tor

Rosas NELKEN

"Wochenpost" Gespräch mit Michael Czollek, Sprecher der Gründungsgruppe für eine marxistische Partei DIE NELKEN

Wochenpost: Mit der marxistischen Partei DIE NELKEN, die Ihre Gruppe am 13. Januar in Berlin gründen will, kommt ein neuer Farbton ins politische Spektrum der DDR. Warum aber ist eine weitere linke Partei inhaltlich sinnvoll? Fördern Sie nicht die Zersplitterung der Linken?

Michael Czollek: Die Linke wurde in den vergangenen Jahren nachgerade atomisiert und ist nun dabei, zu Molekülen oder Molekülketten zusammenzufinden. Unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen Linken haben wir mehrfach erklärt.

Wir möchten diejenigen, die bisher mit uns Verbindung aufnahmen und Mitglied werden wollen, zu einer festeren Organisation zusammenschließen, als das beispielsweise bei der Vereinigten Linken der Fall ist. Eine Mitarbeit in der SED-PDS steht nicht zur Debatte, weil sehr viele meiner Genossen gerade erst von dort enttäuscht kommen. Sie haben in der früheren SED nichts ausrichten können. Auch ich war fünf Jahre lang dort Mitglied. In Sachfragen allerdings kooperieren wir auch mit dieser Partei.

Wochenpost: Im Gegensatz zu anderen neuen Parteien, deren Name schon Programm ist, wählten Sie einen blumigen. Was hat es mit der Nelke als Symbol unter DDR-Bedingungen auf sich?

Michael Czollek: Sie ist bekanntlich ein Symbol des Kampfes der Werktätigen um ihre Rechte. Obwohl solche Rechte in der Verfassung der DDR festgelegt sind; wurden sie nie verwirklicht. Wir wollen mit der Nelke und der Bezeichnung "marxistische Partei" zuallererst sagen: Die Macht gehört in die Hände der Werktätigen und sonst nirgendwohin.

Und außerdem muss man sich den Namen einer Partei auch gut merken können.

Wochenpost: Finden denn DIE NELKEN überhaupt noch eine unbesetzte linke Position?

Michael Czollek: Die SED ließ genügend Positionen unbesetzt, die sie ursprünglich auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Es gehört zu unseren grundsätzlichen Aussagen, dass die Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte den Imperialismus nicht, wie es bekanntlich erwartet wurde, erschüttert hat. Auf der anderen Seite beweist das System der sich sozialistisch nennenden Länder seine Unfähigkeit, sozialistische Gesellschaftsverhältnisse zu entwickeln. Wir sehen als Ursache das nicht vorhandene gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln und somit die bisherige Trennung der Werktätigen von der Machtausübung.

Das in großem Umfange vorhandene Staatseigentum konnte schon deshalb kein gesellschaftliches sein, weil ein demokratischer Zugriff auf den Staat ausgeschlossen ist.

Wochenpost: Welcher Politikvorschlag ergibt sich für Sie daraus?

Michael Czollek: Wir riefen dazu auf, in keinem Betrieb mehr zu dulden, dass Werktätige an zu fällenden Entscheidungen unbeteiligt bleiben. Generaldirektoren, die unter den Machtverhältnissen vor dem Oktober 1989 eingesetzt wurden, führen zum Beispiel derzeit Verhandlungen über Kapitalbeteiligungen mit Konzernen der Bundesrepublik Deutschland. Einen demokratischen Kontrollmechanismus aber gibt es für diese Gespräche nicht.

Betriebsräte sind gegenwärtig das einzige Mittel zur direkten Interessensicherung und zum Geltendmachen von Eigentümerrechten. Übrigens ist die Bildung dieser Räte nichts anderes als die Verwirklichung des Artikel 42 der DDR VerfassungArtikels 42 unserer Verfassung.

Wirtschaftsministerin Professor Christa Luft hat sich am 3. Januar vor den Teilnehmern des Runden Tisches für die Bildung von Betriebsräten ausgesprochen. Sie sprach jedoch nur in eigenem Namen, nicht für die Regierung oder ihre Partei.

Wochenpost: DIE NELKEN stehen mit dieser Forderung nicht allein. Betriebsräte haben auch die Vereinigte Linke und der Parteivorstand der SED-PDS verlangt.

Michael Czollek: Die Vereinigte Linke ist da schon sehr aktiv, und auch wir halten das Wahrnehmen von Interessen der arbeitenden Menschen für wichtiger als parteipolitische Profilierungssucht. Der Unterschied unserer Position etwa zu der der SED-PDS in dieser Frage besteht darin, dass wir die Bildung der Betriebsräte sofort fordern und nicht hinauszögern wollen. Das ist um so wichtiger, als, wie gesagt, gerade jetzt in den Betrieben Entscheidungen von Gewicht fallen. Doch nach wie vor ist die Mehrheit der Werktätigen - genau genommen unter Bruch der Verfassung - davon ausgeschlossen.

Wochenpost: Im Betriebsteil Schwertransport des VEB Kraftverkehr Leipzig wurde in der Weihnachtszeit ein demokratisch gewählter Betriebsrat gebildet. Machen DIE NELKEN bei solchen Gründungen mit?

Michael Czollek: In Berlin stehen wir zum Beispiel mit Kollegen von Bergmann-Borsig in Verbindung und nehmen darauf Einfluss. Allerdings sind unsere Mittel und Möglichkeiten noch ausgesprochen begrenzt. Allein das Vervielfältigen von Texten muss stets neu organisiert werden.

Wochenpost: Wie halten Sie es mit dem Leistungsprinzip?

Michael Czollek: Wir bejahen es ausdrücklich. Dabei kann es nicht Zielrichtung sein, jetzt eine Akkordarbeit aufzubauen, wie sie tagtäglich in kapitalistischen Ländern stattfindet. Wir sind dagegen, die Stechuhr durch eine elektronische Überwachung zu ersetzen, so dass dann bald jeder Toilettengang vom Lohn abgezogen werden kann. Dann wären wir wieder beim Produktionsstress aus der Zeit der Dampfmaschine.

Wochenpost: Was passiert mit einer Belegschaft, wenn der Betrieb, der nach dem Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel arbeitet, pleite geht?

Michael Czollek: Das ist eine Frage des Erziehungsprozesses, den wir in der Form von Selbsterziehung zu durchlaufen beginnen. Deshalb werden für erwachsene Menschen keine "Erzieher" mehr benötigt. Die Angehörigen einer Belegschaft, die das einmal erlebt haben und sich andere Arbeit suchen mussten, weil sie selbst ökonomisch falsche Entscheidungen mit fällten, werden daraus Schlüsse ziehen. Auch diejenigen werden das tun, die davon nur hörten.

Wir müssen lernen, Erfahrungen zu machen, zu akzeptieren, dass das Leben nicht fehlerfrei gehalten werden kann und dass nicht immer andere alle Steine aus dem Weg räumen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Leben eine Kette von guten Entscheidungen, aber auch Fehlern und Erfahrungen ist.

Wochenpost: Lässt sich in etwa abschätzen, wie viel Mitglieder die Partei nach der Gründung haben wird?

Michael Czollek: Zum jetzigen Zeitpunkt rechnen wir mit rund 500. Die Tendenz ist eindeutig steigend. Ferner gehen wir davon aus, dass Sympathisanten nach der Gründung eine gewisse Abwartehaltung aufgeben. Zur Zeit formieren sich mehrere Bezirksgruppen.

Wochenpost: Bewerben sich Menschen aus dem produktiven Bereich um die Mitgliedschaft?

Michael Czollek: Wir wollen keine Organisation sein, in der sich ausschließlich Intellektuelle tummeln. Unter denen, die ihre Mitgliedschaft ankündigten, befinden sich auch Arbeiter und Angehörige der technischen Intelligenz.

Wochenpost: Wie treten Sie und Ihre Genossen dein Menschen im Land ab sofort gegenüber? Sollen sie in gewohnter Weise, nur mit besseren Argumenten ausgerüstet, mobilisiert werden, um danach gute Taten zu vollbringen?

Michael Czollek: Das können Sie kaum ernst meinen! Es geht nicht um bessere Argumente, sondern um Ehrlichkeit, die für uns eine wichtige Kategorie ist. Und es ist weder ehrlich noch wahr, zu behaupten, dass wir im Lande bereits Volkseigentum hätten und es nur darum ginge, Eigentümerbewusstsein einfach zu wecken, damit die Menschen besser arbeiten.

Wir meinen, erst wenn die Leute tatsächlich Eigentümer sind, haben sie auch Eigentümerbewusstsein und handeln verantwortungsbewusst. Die grassierende Verantwortungslosigkeit der letzten Jahre kam gerade deshalb zustande, weil die Menschen von ihrem Eigentum getrennt waren. Von "Mobilisieren" und "alles beim alten lassen" kann keine Rede sein.

Wochenpost: Sie reden von den demokratischen Möglichkeiten, nicht von unserer sehr unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit, Demokratie auszuüben.

Michael Czollek: Es besteht die Gefahr, dass sich Meinungsbildungsprozesse hinziehen, und so mancher wird sich an die Zeit erinnern, in der einzelne oder kleinere Gremien die Entscheidungen trafen. Aber es bleibt uns doch gar keine Wahl! Die früheren Einzelentscheidungen waren häufig mit größeren Fehlern behaftet als die kollektiven.

Wochenpost: In einer Presseerklärung stellen DIE NELKEN fest: "Wir wollen eine marxistische Partei sein, bei deren Gründung wir sagen können: Wir sind wieder bei Rosa Luxemburg, unter ihrem Banner." Die kläglichen Versuche in unserem Land, die bedeutende Denkerin zu "disziplinieren" einmal außer acht gelassen - legen Sie aber nicht schon wieder einen Grundstein für neues Dogma? Die zweifelhafte Methode, mit Klassiker-Zitaten Gegenwartsfragen beantworten zu wollen, ist nicht neu!

Michael Czollek: Wir setzen uns in der programmatischen Arbeit mit kommunistischen und sozialistischen Theoretikern auseinander. Dazu zählen Luxemburg, Liebknecht, Gramsci und Lenin, dessen Ideen wir ebenfalls kritisch aufarbeiten wollen.

Und Rosa Luxemburg: Sie hat zum Beispiel in ihrem Aufsatz "Zur russischen Revolution" vieles von dem vorausgesehen, vor allem davor gewarnt, was nun in der DDR und anderen Ländern eintrat.

Wochenpost: Sie sagen, es habe in der DDR bisher überhaupt keinen Sozialismus gegeben, lehnen deshalb auch den Begriff "Kommando-Sozialismus" ab. Dennoch ist Ihre Partei Teil eines, wenn auch nicht durchgängigen, aber existierenden sozialistischen Konsenses im Lande.

Michael Czollek: Ich sehe keinen Widerspruch. Die Idee ist doch nicht untergegangen.

aus: Wochenpost, 12.01.1990

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