DDR 1989/90 Brandenburger Tor

DIE NELKEN - Grundsätze und Ziele

Der Gründungsparteitag der NELKEN hat am Sonnabend einen programmatischen Entwurf unter dem Titel "Grundsätze und Ziele" der Partei bestätigt. In diesem Dokument, das noch in den Basisgruppen erörtert werden soll, heißt es unter anderem: DIE NELKEN gehen von einer veränderten historischen Situation aus. Die Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte hat den Imperialismus nicht in seinen Grundfesten erschüttert, in den bisher sich sozialistisch nennenden Ländern jedoch den Rahmen der Produktionsverhältnisse einer historisch noch nicht einzuordnenden Gesellschaftsformation gesprengt. Die entstandene Situation lässt unserem Land zwei Entwicklungsmöglichkeiten: Hinwendung zum Kapitalismus oder Schritte zur Herstellung demokratischer, sozialistischer Verhältnisse. Ausgehend von der Tatsache, dass gerade die neuen Produktivkräfte Sozialismus ermöglichen, kämpfen DIE NELKEN um einen sozialistischen Entwicklungsweg der DDR. Ihn zu beschreiten wird, ohne gemeinsames Handeln der marxistischen Kräfte nicht möglich sein.

Sozialismus ist die ökonomische Herrschaft der Mehrheit des Volkes über eine Minderheit. So ist Sozialismus eine Demokratie, die nicht durch das Überwiegen privaten Eigentums an Produktionsmitteln in der Gesellschaft ihre Beschränkung findet. Durch die ökonomische Macht der Mehrheit des Volkes, der unmittelbaren Produzenten, durch ihren Anteil am gesellschaftlichen Eigentum in den Schlüsselzweigen der Volkswirtschaft und durch ihre Befugnis über Produktion und Verteilung zu entscheiden, können die großen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrer vollen Entfaltung geführt werden.

Eine Entwicklung zu sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen erfordert wissenschaftliche Politik auf der Grundlage des Marxismus. Wissenschaftlichkeit der Politik misst sich für uns an Ihrem Beitrag zur Sicherung und Entwicklung der Lebensqualität der Werktätigen und an Schritten zur gesellschaftlichen Höherentwicklung insgesamt. Als notwendig erachten wir daher eine umfassende Wirtschaftsreform, das heißt:

1. Herstellung und Sicherung des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln der Groß- und Grundmittelindustrie bei gewinnorientierter Eigenverantwortung.

2. Erneuerung der materiell-technischen Basis durch moderne Technologien bei Verbesserung der ökologischen Gesamtsituation.

3. Gleichberechtigte internationale Wirtschaftskooperation bei Herausbildung einer effektiven Wirtschaftsstruktur im Inland.

4. Marktwirtschaft bei gesellschaftlicher Rahmenplanung zur Sicherung der Bedürfnisse der Menschen.

5. Materielle Sicherung des gesellschaftlichen Lebens durch Besteuerung der Betriebe.

"Ohne Gesellschaftsreform keine Wirtschaftsreform" ist der erste Abschnitt der "Grundsätze und Ziele" überschrieben. Betont wird: "Gescheitert ist nicht der Sozialismus. Seine Einführung in die Menschheitsgeschichte steht noch aus. Alle Formulierungen in die Richtung, es käme jetzt darauf an, Sozialismus mit Demokratie zu verbinden, widerlegen sich selbst. Demokratie ist Sozialismus. Sozialismus ist Demokratie. Wenn Produktionsmittel Staatseigentum sind, und ein demokratischer Zugriff auf den Staat unterbunden wird, dann können auch hier die unmittelbaren Produzenten nicht über Produktion und Verteilung entscheiden, sind sie Produzent, aber nicht Machtausübender und nicht Eigentümer.

DIE NELKEN wollen keine Experimente mit Sozialismusmodellen. Sie lehnen es ab, die Gesellschaft stalinistischer Prägung als ein Modell des Sozialismus zu betrachten. DIE NELKEN setzen sich zum Ziel, über die von der Führung der SED zu verantwortende, verbrecherische Diskreditierung der sozialistischen Idee hinweg eine sozialistische Alternative mit dem deutschen Volk in der DDR zu schaffen. Sie sind konsequent gegen all jene Strukturen, die zu den Verbrechen am Volk geführt haben. DIE NELKEN wollen, dass die Macht dort liegt, wo sie hingehört: Bei den Werktätigen, bei den Produzenten. Dies bedeutet die direkte Einflussnahme auf Politik und Wirtschaft."

Weiter heißt es: "Offensichtlich kann das Individuum - dies bedingt die gesellschaftliche Arbeitsteilung - innerhalb vertikaler Machtstrukturen nicht machtausübend tätig werden, während es zugleich produziert. Deswegen ist es notwendig, Volksvertreter generell von der Arbeit freizustellen. Der Wählerversammlung muss dabei das Recht obliegen, jederzeit vom gewählten Vertreter Rechenschaft zu fordern, im gegebenen Fall ihn abzuwählen. Die Weiterführung der ursprünglichen beruflichen Tätigkeit von Volksvertretern muss gewährleistet sein.

Die Entwicklung zu einer arbeitenden Körperschaft kann nur von starken und mächtigen Volksvertretungen ausgehen, denen die Exekutivorgane in jeder Hinsicht unterstellt sind. Volksvertretungen müssen das Recht haben, Entscheidungen der Exekutive abzuändern, aufzuheben oder zu ersetzen. Nach und nach können und müssen Volksvertretungen Funktionen der Exekutive übernehmen. Die stärksten Träger exekutiver Macht, die bewaffneten Truppen, sind den Volksvertretungen zu unterstellen, um als deren Machtorgane wirksam zu werden."

"Was unterscheidet uns von anderen Parteien?" Unter dieser Frage steht der zweite Abschnitt des Dokuments, in dem betont wird: DIE NELKEN sind eine marxistische Partei. Aber: "Wir haben im Götzenglauben alle Antworten auf unsere Fragen bei Marx, Engels und Lenin gesucht und dabei vergessen, ihre Theorie weiter zu entwickeln. Mit der Aufarbeitung der revolutionären Traditionen, des revolutionären Gedankengutes dürfen wir keinen Tag mehr zögern, und das schließt die intensive Beschäftigung mit Luxemburg, Liebknecht, Gramsci, Levi, Trotzki, Plechanow, Kautsky und Bernstein mit ein. Diese Aufarbeitung muss in der breiten Parteibasis und mit allen anderen Interessierten erfolgen. Dafür brauchen wir - anknüpfend an sozialdemokratischen Traditionen - Zirkel in den Wohngebieten.

DIE NELKEN sehen in ihrer Tradition den Kampf der Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Nationalsozialismus. Sie treten gegen jede Form von Nationalismus und Chauvinismus auf."

Im Entwurf heißt es weiter: "DIE NELKEN bekennen sich zu einer demokratisch legitimierten Verfassung, solange sie allgemein anerkannte humanistische Werte verwirklicht, wie sie auch in internationalen Konventionen festgelegt sind. z.B. in der UNO-Deklaration über die politischen und ökonomischen Rechte. DIE NELKEN erklären: Wenn die Rechte des Volkes durch die Regierung verletzt werden, dann ist Widerstand die Pflicht jedes Staatsbürgers. DIE NELKEN verlangen die Verankerung der unmittelbaren Einflussnahme des Volkes auf Politik und Wirtschaft in der Verfassung. Dazu fordern und unterstützen sie eine umfassende gesellschaftliche Kontrolle von unten, die sofortige Einrichtung von entscheidungsbefugten Betriebsräten sowie die Aufnahme der Institution des Volksentscheides und des Volksbegehrens in die Verfassung der DDR. DIE NELKEN treten gegen die Abwälzung der Lasten der Krise auf die Bevölkerungsmehrheit ein und für Schutz sowie Ausbau sozialer Errungenschaften."

Zur deutschen Frage heißt es: "Wir wollen eine souveräne DDR weil eine Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland einen Großteil der Bevölkerung - die DDR ist überaltert - knapp an die Armutsgrenze schicken würde. DIE NELKEN fördern den Verständigungsprozess und die Zusammenarbeit zwischen Ost und West. Sie unterstützen ein umfassendes Vertragswerk mit der Bundesrepublik Deutschland auf politischem, ökonomischem, juristischem, kulturellem, ökologischem und sozialem Gebiet. International Ist eine gleichberechtigte Wirtschaftskooperation anzustreben. DIE NELKEN streben eine umfassende Abrüstung auf das geringstmögIiche Niveau an sowie militärische Strukturen der Nichtangriffsfähigkeit im Internationalen Maßstab. DIE NELKEN treten für internationale Verträge zur Lösung der globalen Menschheitsfragen ein."

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 13, 16.01.1990, 45. Jahrgang, Sozialistische Tageszeitung für den Bezirk Dresden, Herausgeber: Geschäftsführender Bezirksvorstand Dresden der SED/PDS

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