Du bist so, und wir waren so

"DM"-Interview mit der Malerin Bärbel Bohley vom Neuen Forum

Man fragt jetzt wieder in aller Öffentlichkeit und erhält Antworten. Entertainer Gunther Emmerlich tat das vor gut einer Woche hier im Blatt. Auch wenn staatliche Stellen noch Zulassungsängste besitzen, wollte er wissen: Wer ist Bärbel Bohley? Was denkt die Mitbegründerin des Neuen Forums?

Mitten in Berlin, dort wo es sich von seiner ältesten, baufälligsten Seite zeigt, lebt Bärbel Bohley, 44 Jahre, geschieden, ein Sohn von 19 Jahren. Sie hat in Weißensee Malerei und Grafik studiert, bevorzugt schnelle Techniken wie Bleistift und Pastellstifte. Experimentieren ist für sie wichtig, ebenso wie Menschen und Gesten in den Themen ihrer Bilder. Als echte Berlinerin liebt sie ihren Kiez, den Prenzlauer Berg an der Fehrbelliner Straße, mit seinen Menschen, mit seinen kaputten Häusern. Durchaus ein Stoff, aus dem bodenständige DDR-Bürger gemacht sind, die etwas im eigenen Land verändern wollen.

DM: Wie gefährlich war im Nachhinein betrachtet öffentliches Andersdenken?

BÄRBEL BOHLEY: Es gab in diesem Land nichts Gefährlicheres, als anders zu denken. Und das war schon vor mir so. Leute wurden dafür bestraft, weil sie selbständig dachten. Seit vierzig Jahren vertrieb man damit Menschen. Das hat mit Arroganz der Macht zu tun, denn es wurde nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg bestimmt. Wer den Weg, selbst wenn er zum gleichen Ziel führen sollte, anders gedacht hatte, wurde schon kriminalisiert.

DM: Viele haben unser Land verlassen und tun es immer noch. Sie sind hiergeblieben . . .

BÄRBEL BOHLEY: Bei mir ist da eine Portion Trotz dabei. Eigentlich gehört das Land uns und nicht denen, die es regieren. Ich habe nie einsehen können, weshalb ich gehen soll. Vielleicht müssten erst einmal andere gehen? Man kann ein Land nicht aufgeben, nur weil einem die Regierung nicht gefällt. Mir ist die Heimat hier sehr wichtig. Leute, die diese Schnitte mit sich machen, erkennen im Grunde genommen oft nicht, was das für Schnitte sind. Denn die wenigsten sind zu Vagabunden geboren.

DM: Kann man schon von einem Abbau der Berührungsängste sprechen?

BÄRBEL BOHLEY: Die haben sich noch nicht wesentlich abgebaut. das ist ein Prozess, der stattfindet, gegenwärtig ist es ein erzwungener. Hunderttausende mussten erst auf die Straße gehen, um die Regierung herauszufordern, den Dialog aufzunehmen. Der ist nicht durch Einsicht zustande gekommen, sondern durch den Druck des Volkes.

DM: Ist das schon Mündigkeit des Volkes?

BÄRBEL BOHLEY: Für mich ist es ein Zeichen, dass Angst schwindet, Selbstbewusstsein wächst, und ich hoffe, es führt zur Mündigkeit. Es ist doch unmöglich, in sechs Wochen eine Gesellschaft umzukrempeln, die sich in 40 Jahren gebildet hat. Dazu braucht es keinen festgeschriebenen Führungsanspruch einer Partei. Der würde sich einfach von selbst aufheben, wenn es zu freien Wahlen käme. Irgendwann muss auch die Verfassung geändert werden, aber jetzt geht es erst einmal darum, dass sich die Menschen selbst organisieren können, die andere Vorstellungen als die SED über die Entwicklung unseres Landes haben. Wir brauchen Zugang zu den elektronischen Medien. Wir brauchen eine Zeitung. Wir brauchen freien Zugang zur Öffentlichkeit.

DM: Was braucht unser Land noch? Wirkliche Reformer?

BÄRBEL BOHLEY: Dieses Land besteht nicht nur aus Reformern, obwohl aus allen Ecken und Enden plötzlich Reformer auftauchen, die schon immer welche gewesen sein wollen, ob bei den Regierenden oder der Bevölkerung. Für sich diesen Schritt zu machen und zu sagen, ich war ein Opportunist und möchte jetzt etwas bewegen, ist doch ein langer Weg. Deshalb wäre es schlecht, wenn wir jetzt alle ungeduldig würden. Ohne Geduld bräche der Aufbruch ziemlich schnell zusammen. Im Neuen Forum gibt es Diskussionen und Forderungen, eine Partei zu werden. Ich glaube aber, dieses Land braucht eine breite Bewegung.

Veränderungen in Osteuropa sind fast nur so zustande gekommen. In einer Bewegung können sich im Gegensatz zu Parteien Interessenverbände von Betroffenen und Fachleuten um bestimmte Probleme herum bilden.

DM: Ein alternatives Konzept also?

BÄRBEL BOHLEY: Die Welt hat alternative Konzepte dringend nötig, da die Probleme unheimlich groß sind. Nur wer ein echtes Interesse an einer Problemlösung hat, setzt sich auch wirklich dafür ein. Diesen Leuten muss man die Möglichkeit geben, sich zu formieren, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen und Politik zu machen, indem sie eigene Kandidaten stellen. Ich glaube nicht, dass Parteien dazu in der Lage sind. Ihr Kampf um die führende Rolle, um Macht und Machterhaltung saugt zu viele Kräfte auf. Deshalb muss Opposition einfach da sein, und zwar legalisiert.

DM: Das appelliert sehr an Vernunft . . .

BÄRBEL BOHLEY: Alle Menschen besitzen für mich einen Kern von Vernunft. Der ist in uns genauso wie das Unvernünftige. Wir sind immer Opfer und Täter zugleich. Die Frage aber ist doch, wie man das, was oft verschüttet ist, richtig weckt und zum Tragen kommen lässt. Die Menschen sehnen sich doch nicht nach Unterdrückung, sondern nach Freiheit ihrer Persönlichkeit und Umwelt. Auch die Staatssicherheit will befreit werden. Darum halte ich das Neue Forum für so wichtig, um die Probleme der Zukunft solidarisch zu lösen.

DM: Dazu braucht das Land auch neue Männer?

BÄRBEL BOHLEY: Es ist völlig klar, bestimmte Leute müssen weg, die Verantwortung für die Entwicklung in der DDR tragen. Bisher sehe ich nur die Alten gehen. Schon als Generationsproblem ist das notwendig. Doch die Verantwortung zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Auch in der Generation der 50jährigen müssen sich hohe Verantwortliche in Frage stellen lassen. Das ist in sofern problematisch, weil sie Positionen innehaben, die ihnen von der Qualifikation her gar nicht zustehen. Hier wird es noch harte Auseinandersetzungen geben.

DM: Sie sind Malerin und im VBK. Fehlte auch den Künstlern unseres Landes ein adäquates Forum?

BÄRBEL BOHLEY: Für mich war der Verband lange Zeit nicht gerade eine Stätte, von der aus man eine Gesellschaft verändern kann. Künstler sind hier nur verwaltet und in eine vorgegebene Richtung kanalisiert worden. Dabei war die Verwaltung stärker als das künstlerische Interesse. Außerdem halte ich bildende Künstler für etwas unpolitisch, weil sie in ihren Ateliers sitzen und die Dinge mehr beschauen als sie zu verändern. In der DDR ist die Kunst deshalb sehr beschaulich. Stattgefundene Prozesse zu freierer Kunst haben eher sehr viel mit Devisenbringerei zu tun. Denn kritische Künstler können ihre Werke im Westen über den Kunsthandel wirklich sehr gut verkaufen. Die DDR-Kunst ist als Produkt entdeckt worden. Künstlerische Freiheit spielt hierbei nur eine Nebenrolle, denn die Künstler sind nach wie vor am Gängelband. Der geistige Raum ist immer noch klein. Das geht nur voran in direkter Auseinandersetzung unter den Künstlern und nicht erst, wenn das Kulturministerium eine Genehmigung erteilt.

DM: Doch in letzter Zeit sind die Künstler aufgewacht . . .

BÄRBEL BOHLEY: Ihnen ist scheinbar klar geworden, dass man nicht immer nur in die Welt fahren kann, sich Florenz anschaut und dann in diesen engen Kasten zurückkommt. Privilegien sind eben auf die Dauer nicht das Richtige. Man möchte Rechte haben. Dazu gehört das Recht auf Veränderung dort, wo man lebt.

DM: Halten Sie Ihre Einladung an Wolf Biermann, in der DDR wieder aufzutreten, noch aufrecht?

BÄRBEL BOHLEY: Aber ja, wenn Wolf Biermann hier singt, hat sich in der DDR etwas verändert. Wolf Biermann ist ein Symbol für Unrecht, das Leuten in diesem Lande angetan wurde. Sein erfahrenes Unrecht steht für viele andere. Er hatte hier Auftrittsverbot und nicht die Möglichkeit zu singen. Mit ihm sind viele gegangen. Und mit der Unterdrückung von Solidarität für Biermann, die ja damals da war, eine Menge hatten unterschrieben, ist der Kultur in diesem Land ein solcher Schlag versetzt worden, den man an einer Person festmachen kann, doch er geht viel weiter und viel tiefer. Wir haben sehr viele gute Leute verloren. Schriftsteller, Schauspieler, die wirklich fehlen. Es wäre wichtig, im Nachdenken über Kulturpolitik zu sagen, hier wollen wir neu anfangen, und da haben wir wirklich Fehler gemacht. Deshalb muss man Biermann hier auftreten lassen. Das wäre für mich ein Zeichen positiver Selbstkritik, die einen Neu beginn gefunden hat.

DM: Dann muss man auch seine harte Art, Dinge zu benennen, tolerieren . . .

BÄRBEL BOHLEY: Das gehört dazu. Diese Verhärtung ist aus Hilflosigkeit entstanden. Und die damals Verantwortlichen müssen sie als ihre Schuld begreifen. Denn Biermanns Verhärtungen haben eine Ursache. Für diese Ursache gibt es beteiligte Leute, die man benennen kann. Nur sie können sagen, du bist so und wir waren so, und jetzt wollen wir einmal neu anfangen. Bitte schön, die Werner-Seelenbinder-Halle steht dir offen. Beschimpf uns, wir haben uns geändert, und weil wir uns geändert haben, singst du jetzt hier. Also Größe, die man als Beteiligter entwickeln muss, wäre gut, um Vergangenheit zu bewältigen.

(Das Gespräch führte Olaf Opitz)

Der Morgen, Zentralorgan der LDPD, Do. 09.11.1989

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