Aufruf an alle Arbeiter und Angestellte: Bildet Betriebsräte

Verfolgt man die Geschichte der gesetzlich geregelten Interessenvertretungen der Arbeitnehmer in Einrichtungen, so kann man den Eindruck gewinnen, fortschrittliche Positionen seien in Gesetzesform festgeschrieben und ständig verbessert worden. Tatsächlich waren und sind Interessenvertretungen von gegenseitigen Machtkämpfen und Zugeständnisse gekennzeichnet.

Das in der DDR noch gültige Betriebsratgesetz (Kontrollratsgesetz Nr. 22 von 10. April 1946) muss vom Inhalt her als überholt und damit gegenstandlos angesehen werden.

Alle Überlegungen und Aktivitäten zu notwendigen Veränderungen des gegenwärtig bestehenden Systems der Interessenvertretungen der Werktätigen müssen von dem Grundgedanken bestimmt sein, die Interessenvertretungen über das bisher erreichte Maß weiter auszugestalten und rechtlich abzusichern.

Nachfolgende Hinweise und Empfehlungen für die Bildung von Betriebsräten in den Betrieben und Einrichtungen sollen die Modalitäten vereinheitlichen und werden getragen vom

- NEUES FORUM Leipzig

- Bürgerkomitee Leipzig

- Industriegewerkschaften und Gewerkschaften des Bezirkes Leipzig

Die Erarbeitung erfolgte von einem Autorenkollektiv:

- F(...), F(...)
- Dr. K(...), J(...)
- K(...), S(...)
- MA K(...), G(...)
- S(...), U(...)
- Dr. W(...), K(...)
NEUES FORUM Leipzig
FU Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschungen
NEUES FORUM Leipzig
VHS Salzgitter, Uni Münster
NEUES FORUM Leipzig
Hans - Böckler - Stiftung Düsseldorf

Die Erarbeitung erfolgte in Anlehnung an das Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

I. Allgemeiner Teil

1. In allen Betrieben und Einrichtungen aller Eigentumsformen können Betriebsräte gewählt werden.
Die Willensbekundung zur Bildung eines Betriebsrates erfolgt durch Urabstimmung aller Belegschaftsmitglieder. Es sind 51 % aller wahlberechtigten Belegschaftsmitglieder durch zustimmende Willensbekundung beizubringen.

2. Der Betriebsrat hat bei Wahrung des geltenden Rechts (1) die Interessenvertretungen alle in der Einrichtung eingesetzten Belegschaftsmitglieder und beschäftigten wahrzunehmen.

3. Betriebsrat und Gewerkschaften arbeiten mit dem ernsten Willen zur Verständigung und Einigung zusammen. Sie ergänzen einander. Auf der Grundlage der derzeit gültigen gesetzlichen Regelungen und den vorliegenden Hinweisen bestimmen sie in den Betrieben und Einrichtungen partnerschaftlich die Aufgabenteilung (s. Punkt II./10.). Sie führen regelmäßig gemeinsame Abstimmungen durch, nehmen an Leitungsberatungen der Partner teil und tauschen erarbeitete Dokumente, Beschlüsse und ähnliche Unterlagen aus.

4. Für Jugendliche und Auszubildende (Lehrlinge) wird eine Jugendlichen- und Auszubildendenvertretung gewählt.
(Richtlinien für deren Tätigkeit sind noch nicht Gegenstand dieses Dokumentes. Sie werden nach Beratung mit entsprechenden Vertretern nachgereicht.)

5. Alle anstehenden und anfallenden Kosten für die Tätigkeit der Betriebsräte sowie Freistellungen von der Arbeit sind durch den Arbeitgeber (Unternehmensleitung) zu tragen.

(1) Unter geltendem Recht sind alle in der DDR gültigen rechtlichen Grundlagen zu verstehen.
Von den vorliegenden Hinweisen und Empfehlungen werden die im Arbeitsgesetzbuch und anderen Gesetzen und Verordnungen geregelten gewerkschaftlichen Rechte bis zur Verabschiedung eines Betriebsverfassungsgesetzes durch die Volkskammer nicht berührt.

II. Betriebsräte

1. Wahlberechtigt sind alle Belegschaftsmitglieder.

2. Wählbar sind alle Belegschaftsmitglieder ab vollendetem 18. Lebensjahr. Nichtwählbar ist, wer infolge strafrechtlicher Verurteilung die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, nicht besitzt.

3. Die Zahl der Belegschaftsmitglieder richtet sich nach der Betriebsstruktur und -größe differenziert in der Regel wie folgt:

bei 1
4
21
51
151
301
601
1001
1501
bis
"
"
"
"
"
"
"
"
3
20
50
150
300
600
1000
1500
2000
Belegschaftsmitglieder
"
"
"
"
"
"
"
"
1
2
3
5
7
9
11
13
15
Vertreter
"
"
"
"
"
"
"
"

Für je 500 weitere Belegschaftsmitglieder 2 Vertreter

4. Der Betriebsrat wird für einen Zeitraum von zwei Jahre gewählt.

5. Ein Mitglied des Betriebsrates kann für die Zeit seiner Tätigkeit und die darauf folgende Wahlperiode nicht gekündigt werden. Der Kündigungsschutz erlischt, wenn eine Wählbarkeit nach Punkt II./2. nicht mehr gegeben ist.

6. Der Betriebsrat erarbeitet sich eine Arbeits- und Geschäftsordnung und kann zur Wahrnehmung seiner Aufgaben Ausschüsse und Unterausschüsse bilden.

7. Der Betriebsrat hat gegenüber allen betrieblichen Entscheidungen ein Vetorecht. Maßnahmen des Unternehmens, gegen die der Betriebsrat im Rahmen seines Mitbestimmungsrechtes Veto erhoben hat, müssen solange unterbleiben, bis eine Einigung erfolgt ist.

8. Die Belegschaft hat das Recht, den Betriebsrat bei festgestellten Unzulänglichkeiten einzeln oder in Gruppen zu konsultieren und Rechenschaft zu fordern sowie den Anspruch auf Beseitigung zu artikulieren.

9. Die Unternehmensleitung hat zu allen betrieblichen Belangen eine rechtzeitige Informationspflicht gegenüber dem Betriebsrat. Dies sind insbesondere:

1.) Wirtschaftliche Aspekte

- die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens;

- die Produktions- und Absatzlage;

- Rationalisierungsvorhaben;

- Fabrikations- und Arbeitsmethoden, insbesondere die Einführung neuer Arbeitsmethoden;

- die Einschränkung oder Stilllegung von Betrieben oder Betriebsteilen;

- der Zusammenschluss von Betrieben;

- die Änderung der Betriebsorganisation oder des Betriebszwecks;

- sonstige Vorgänge oder Vorhaben, die die Interessen der Belegschaft des Unternehmens wesentlich berühren können.

Die wirtschaftliche Unterrichtung hat monatlich einmal zu erfolgen.

2.) Gestaltung von Arbeitsplätzen

Die Unternehmensleitung hat den Betriebsrat über die Planung von

- Neu-, Um- und Erweiterungsbauten von Fabrikations-, Verwaltungs- und sonstigen betrieblichen Räumen;

- technischen Anlagen;

- Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufen;

- Arbeitsplätzen

rechtzeitig unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten.

Die Unternehmensleitung hat mit dem Betriebsrat die vorgesehenen Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf die Anforderungen an die Belegschaft rechtzeitig zu beraten, so dass Vorschläge und Bedenken des Betriebsrates bei der Planung berücksichtigt werden können.

3.) Umweltverträglichkeit

Die Unternehmensleitung hat den Betriebsrat umfassend über die Umweltverträglichkeit des Produktionsprozesses, seiner Abfallprodukte und der im Betrieb erzeugten Produkte zu informieren. Sie hat Möglichkeiten der Gefährdungen und Belastungen der Umwelt durch das in Verkehrbringen sowie bei der Beseitigung der Produkte zu erläutern.

4.) Personalplanung

Die Unternehmensleitung hat den Betriebsrat über die Personalplanung insbesondere über den gegenwärtigen und künftigen Personalbedarf sowie über die sich daraus ergebenen personellen Maßnahmen und Maßnahmen der Berufsbildung anhand von Unterlagen rechtzeitig und umfassend zu unterrichten.

Der Zugang der Betriebsräte und der einzelnen Betriebsratsmitglieder zu allen Betriebsbereichen und den einzelnen Arbeitsplätzen muss gewährleistet sein. Das hat auch für so genannte Sicherheitsbereiche zu gelten. Die Geheimhaltungspflicht der Betriebsräte und einzelner Betriebsratsmitglieder kann bezüglich Forschungs- und Konstruktionsunterlagen definiert werden.

10. Der Betriebsrat hat bei allen mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten ein Initiativrecht. Er hat, soweit eine gesetzliche oder kollektivvertragliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen:

- Veränderungen von technischen Anlagen, Arbeitsplätzen, Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitsumgebung im Rahmen der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit;

- die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die dem Leistungsvermögen der Arbeitnehmer angepasst sind;

- die Ausfüllung der Arbeitstätigkeit mit sinnvollen Arbeiten;

- Sicherung und Erweiterung der beruflichen Qualifikation;

- die Abwehr von gesundheitlichen Gefährdungen und das Abstellen von Verstößen gegen Arbeitsschutzvorschriften; er wird schon dann initiativ, wenn Anzeichen dafür vorliegen, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung von Beschäftigten durch Arbeitsbedingungen und Umwelteinflüsse an Arbeitsplätzen stattfinden. Die Nachweispflicht der Gefahrlosigkeit liegt beim Betreiber;

- Festlegung betriebliche Stellenpläne;

- Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen beruflicher Aus- und Weiterbildung;

- Gestaltung der Formen und Inhalte der beruflichen Qualifizierungsprozesse;

- personelle Maßnahmen wie Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung, Versetzungen, Kündigungen;

- Grundsätze über das Führen von Personalakten, Gestaltung von Personalfragebögen, Beurteilungen u.s.w.
(Hierzu werden noch separate Empfehlungen und Hinweise erarbeitet!);

- Fragen der Ordnung der Einrichtung und des Verhaltens der, Beschäftigten in der Einrichtung;

- Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage;

- vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betrieblichen Arbeitszeit;

- Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Arbeitsentgelder;

- Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplanes sowie Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Beschäftigte, wenn zwischen der Unternehmensleitung und den beteiligten Beschäftigten kein Einverständnis erzielt werden kann;

- Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu geeignet sind, das Verhalten oder die Leistung der Beschäftigten zu überwachen;

- Regelungen und Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder Unfallverhütungsvorschriften;

- Form, Ausgestaltung und Verwendung der Sozialeinrichtungen, deren Wirkungsbereich im Betrieb, Unternehmen oder Kombinat bzw. Konzern beschränkt ist;

- Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen, die den Beschäftigten mit Rücksicht auf das Bestehen eines Arbeitsrechtsverhältnisses vermietet werden sowie die allgemeine Festlegung der Nutzungsbedingungen;

- Leistungsabstimmung und Leistungshöhe;

- Fragen der betrieblichen Lohn- und Gehaltsgestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung, die nicht tariflich gebunden sind;

- Festlegung der Akkord- und Prämiensätze und vergleichbarer leistungsbezogener Entgelder, einschl. der Grundfaktoren;

- Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen.

Anmerkung: Die aufgeführten Grundfragen der betrieblichen Mitbestimmung erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind individuell zu ergänzen oder der jeweiligen spezifischen Situation entsprechend zu erweitern oder zu ergänzen.

11. Der Betriebsrat beruft Betriebsversammlungen ein. Sie finden während der Arbeitszeit statt.

12. Die Betriebsräte nominieren einen Vertreter aus ihrer Reihe für einen Kombinats- bzw. Konzernbetriebsrat. Dieser konsultiert sich regelmäßig. Es ist kein ständiges Wahlorgan.

III. Wahlordnung

1. Die Willensbekundung zur Betriebsratsbildung erfolgt durch Urabstimmung. Es sind mindestens 51 % der lt. Punkt II./1. wahlberechtigten Belegschaftsmitglieder durch zustimmende Willensbekundung beizubringen.

2. Die Auszählung hat öffentlich zu erfolgen.

3. Für Minderheiten in den Betrieben und Einrichtungen kann eine Minderheitenvertretung gebildet werden. Sie ist im Betriebsrat zu integrieren.

4. Vor der Wahlhandlung zum Betriebsrat ist eine Betriebsversammlung einzuberufen, auf der in offener Wahl der Wahlvorstand (mindestens drei Mitglieder) gewählt wird und differenzierte Modalitäten für die Stärke und Zusammensetzung des Betriebsrates beraten und festgelegt werden. Dabei ist die Entscheidung zu treffen über die Durchführung des Personen- oder Listenwahlrechts.

5. Die Erstellung der Kandidatenliste für den Betriebsrat erfolgt durch Bereitschaftserklärung von Belegschaftsmitglieder gemäß Punkt 11./2.
Bei der Erstellung der Kandidatenliste ist die soziale Zusammensetzung der Belegschaft zu berücksichtigen, wobei die Möglichkeit der Aufstellung von mehreren Kandidaten gegeben ist.

6. Die Wahl zum Betriebsrat erfolgt in geheimer Wahl.

7. Die Auszählung der Stimmen erfolgt öffentlich.

8. Der gewählte Betriebsrat wählt seinen Vorsitzenden und den Stellvertreter.

9. Die Wahlunterlagen sind im Betrieb oder der Einrichtung mindestens über die Wahlperiode hinaus aufzubewahren. Sie können an einem neutralen Ort versiegelt hinterlegt werden.


IV. Schluss- und Übergangsregelungen

1. Die Hinweise und Empfehlungen gelten als Übergangsregelungen bis zur Schaffung und Bestätigung gesetzlicher Voraussetzungen.

2. Das NEUE FORUM, das Bürgerkomitee und die Industriegewerkschaften und Gewerkschaften des Bezirkes Leipzig informieren sich gegenseitig über die Bildung von Betriebsräten.

3. Die kontinuierliche Aus- und Weiterbildung wird durch das NEUE FORUM koordiniert und organisiert.

[ohne Datum]

Δ nach oben