Der Gast und der Fisch

Die Lawine rollt. Nicht nur eine aus Blech und Zweitaktmief, es rollt auch die Lawine aus neuen Anschauungen, neuen Begriffen, neuem Begreifen. Zunächst allerdings hatten wir gerade mal Gelegenheit zur "An-schauung" von dekorativen Fensterauslagen, zum "Be-greifen" der attraktiven Sonderangebote. Gastlich war der Empfang allenthalben, beträchtlich das Begrüßungsgeld. In jedem unter uns aber mag bereits die Ahnung aufgekeimt sein, dass angesichts des Millionenansturms die Hundert-DM-Scheine für die gastfreundlichen Steuerzahler auch eine beträchtliche finanzielle Auslage sind und auf Dauer nur ein Sonderangebot sein können.

Ein Teil von uns hat sich leider in Jahrzehnten in die Rolle als Almosenempfänger geschickt. Während die Verwandten hier pro Tag fünfundzwanzig Mark zum angemaßten Eins-zu-eins-Kurs tauschen müssen, bekommt unsereiner dort einen ganzen Hunderter geschenkt sowie in den Läden womöglich noch Rabatt. Und sofern er hierzulande mit Onkel oder Tante einen Stadtbummel unternimmt, führt der Weg von ungefähr am Intershop vorüber... Der devisenhungrige Staat selbst ermutigt und organisiert per Shop und Genex den Almosenempfang wie der legendäre Bettlerboss Macky Messer. Und, um auch das zu erwähnen, er macht seinen Schnitt sogar noch bei erwähntem Begrüßungsgeld: Denn die Leute bringen es zum Teil in bar wieder mit, zum Teil in Warenform, so die eigene Mangelwirtschaft entlastend.

Wir werden nun wieder und wieder reisen. Und Anschauen und Begreifen wird hoffentlich bald Erkenntnis: Zu verschenken haben unsere Nachbarn, jedenfalls auf die Dauer, auch nichts. Für uns selbst heißt es Wege erschließen, dass das eigene Geld etwas gilt, der Besuch des eigenen Landes nicht nur traurige, höchstens nostalgische Attraktion wird. Die Wege bis dahin werden mühsam, es werden wieder einmal die Mühen der Ebenen sein, und die Wege liegen im Nebel. Bedenken wir einstweilen das alte deutsche Sprichwort: Der Gast und der Fisch stinken am dritten Tag.

Bemühen wir uns einstweilen wenigstens um Haltung. Verwenden wir keine faule Tricks, den bewussten Hunderter doppelt abzukassieren. Verscheuern wir auch nicht unsere Mark zehn zu eins, sonst haben wir nach dem Ausverkauf zwar noch Schokolade, können uns aber unser täglich Brot nicht mehr leisten. Da muss einer nämlich kein Börsenhai sein, um die einfache Mechanik dieses Ausverkaufs zu kapieren: Für durch Transaktion erworbene Ost-Mark lassen sich bei uns subventionierte Waren ramschen, und das sind insbesondere die Lebensmittel des Grundbedarfs. Wie man aus Berlin hört, tun das einige bereits, und wir können nicht meckern: Es ist die Rache des kleinen Mannes, der zusieht, wie seine Steuergroschen breit ausgeteilt werden (eine Milliarde bei zehn Millionen Besuchern), und der bei sich denken mag: Sollen die Ihren eigenen Laden in Schwung bringen ...

Und noch einmal: Seien wir uns bewusst, dass die Laune der Gastgeber eines Tages umschlagen könnte. Schon wendet sie sich deutlich gegen jene Schlaumeier, die mit rascher Schwarzmaloche gewerkschaftlich schwer erkämpfte Lohntarife zu unterlaufen versuchen. Und sowieso gegen die - das wird bald genug deutlich werden -, welche in den westdeutschen Arbeits- und Wohnungsmarkt für dauernd einparken möchten.

Ihr Parkplatz ist hier. Hier bleibt erspart die Peinlichkeit des Wiederanklopfens. Schlangestehen können sie auch bei uns.

Günter S(...)

aus: Forum des Neuen Forum in Freie Presse, 18. 11. 1989, 27. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt der SED